Predigt am 27. Januar / Septuagesimae 2013 in der Frauenkirche zu Dresden:
Toleranz? – Barmherzigkeit!
„…Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt: ‚Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.’ Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“ (Mt 9, 9-13).
Liebe Gemeinde,
„… er aß mit den Zöllnern und Sündern.“ War Jesus tolerant? War er zu tolerant? Warum könnte es für uns wichtig sein, ob Jesus tolerant war? War Muhammad tolerant? Wohl eher weniger. Hätte er sich mit Zöllnern und Sündern an einen Tisch gesetzt? Wohl kaum. Immerhin hat es auch im Islam Phasen einer größeren Toleranz gegeben. Wie steht es mit dem Buddha? Er war zunächst sehr intolerant gegenüber sich selbst, so sehr, dass er bis zum Gerippe abmagerte; er fand dann den „mittleren Weg“. Weibliche Mitglieder mochte er zunächst nicht in seiner Gemeinschaft haben; aber er gab nach und ließ schließlich Nonnen zu. In Sachen Toleranz gibt es offenbar Lernprozesse.
In Korea, so musste ich mir dort sagen lassen, haben fanatisierte Christen Buddhafiguren den Kopf abgeschlagen oder sie mit Fäkalien bedacht. Wie steht es bei uns Christen mit Lernprozessen?
Lasst uns den Blick darauf richten, wie Jesus das mit der Toleranz gehandhabt hat.
Toleranz braucht Kriterien
„Er aß mit den Zöllnern und Sündern“. Offenbar galt Zöllner zu sein als Inbegriff für eine sündige Existenz. Die Zöllner, die im Neuen Testament genannt werden, hatten bekanntlich nichts mit dem Zollamt im heutigen Sinn zu tun. Es waren Leute, die für einen bestimmten Bereich Gebühren oder Steuern einzutreiben hatten, ohne dass dies klar festgelegt war. Es war nicht zu kontrollieren, inwieweit da jemand sich selbst bereicherte. Schon in der außerjüdischen Welt verdächtigte man die Zöllner des Betrugs und der Korruption. Innerhalb des Judentums galt die Regel, dass ein Zöllner, der sich der frommen Gemeinschaft der Pharisäer anschließen wollte, seinen Beruf aufgeben und die von ihm Übervorteilten entschädigen musste. Mit solchen Menschen hatten sich Jesus und seine Jünger eingelassen. Ein derart klares Bild von „sündiger Existenz“ gibt es heute gar nicht mehr. Früher hätte man vielleicht zuerst an Prostitution gedacht. Prostitution gilt als Beruf im Rahmen von Dienstleistungen; auf manche Bänker hat sich im Zuge der Neid-Diskussion der Grimm einzelner Gruppen konzentriert. Steuern zu hinterziehen, gilt nicht mehr nur als Kavaliersdelikt. Aber bestimmte Menschen als klassische „Sünder“ zu verstehen, liegt heute nicht mehr nahe. Jedenfalls mit moralisch nicht klar einzuordnenden Menschen setzt sich Jesus zusammen, oder er weicht ihnen mindestens nicht aus.
Aber es wird auch anderes von ihm berichtet. „Er ging in den Tempel hinein und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer im Tempel und stieß die Tische der Geldwechsler um“ (Mt 21,12). Den Schriftgelehrten und Pharisäern gilt sein vielfaches „Wehe euch!“ (Mt 23). „Ihr Schlangen- und Otternbrut! Wie wollt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen?“ (Mt 23,33). Jesus gerät in die Wortwahl und Stimmlage Johannes des Täufers. War Jesus tolerant zu den einen, aber höchst intolerant gegenüber den anderen, nur spiegelverkehrt?
Offenbar braucht es bei der Anwendung von Toleranz bestimmte Kriterien. Auch für Jesus gibt es Grenzen der Toleranz. Wir sprechen heute nicht gern von Grenzen der Toleranz. Das entspricht nicht der political correctness. Intoleranz gilt als in sich problematisch, ja als eigentlich prinzipiell negativ. So ergibt sich leicht ein Gefälle: Wir sind nur noch intolerant, wo wir tolerant sein sollten, und tolerant, wo wir intolerant sein müssten. Darf man Jugendlichen oder Kindern gegenüber tolerant sein, ihnen alles durchgehen lassen? Wir sind geneigt, eher nachzugeben; es ist auch weniger anstrengend, zunächst jedenfalls. Muss man irgendwelchen Rowdies in den öffentlichen Verkehrsmitteln mindestens die Meinung sagen? Das empfiehlt sich ohnehin nicht, es ist gefährlich. Andererseits: Falsche Toleranz kann tödlich sein. Ein Kind, das bei Rot über die Straße springen will, nicht festzuhalten, kann es seinen Tod bedeuten. Toleranz braucht Kriterien.
Suche nach Kriterien
Martin Luther meinte, solche ein Kriterium zu besitzen. Es lautete: „Die Liebe erduldet alles, aber der Glaube erduldet nichts.“ Weil es ihm um den Glauben ging, meinte er oftmals, intolerant sein zu müssen, sozusagen im Namen Gottes. Und er nahm sich heraus, den Papst Antichrist zu nennen und seine Gegner als Teufel zu bezeichnen. Schon zu seinen Lebzeiten hat man gezählt, wie oft er vom Teufel spricht. Er antwortete trocken: Wieso zählt man nicht, wie oft ich von Christus rede? Aber Luthers Unterscheidung trägt nicht. Unser Glaube darf sich nicht auf Kosten der Liebe profilieren. Gerade aus Liebe muss man an mancher Stelle intolerant sein, und gerade der Glaube an den gnädigen, ewigreichen Gott kann tolerant machen. Thomas von Aquin meinte: „Wir müssen in den Sündern hassen, was sie zu Sündern macht, und das lieben, was sie zu Menschen macht.“ Schwer anzuwenden, wenn man an Hitler oder Stalin denkt. Die Richtung stimmt schon, doch Sünder und Sünde sind so einfach nicht zu trennen.
Kriterium „Barmherzigkeit“
Jesus kannte den Begriff „Toleranz“ nicht. Er spricht von Barmherzigkeit. „Lernet, was das ist: Barmherzigkeit …“ Jesus und seine Jünger und die Menschen, die ihnen eigentlich zuwider sein mussten, sitzen an einem Tisch. Sie speisen mit einander, ein altes Symbol der Gemeinschaft mit einander, in frommen jüdischen Kreisen Symbol auch der Gemeinschaft mit Gott. Ein früher Abschreiber des Textes hat sogar eingefügt: Sie trinken mit einander! Sich zusammensetzen heißt offenbar das Gebot der Stunde. Vielleicht nicht gleich diskutieren, sondern erst einmal eine Tasse Tee trinken, sich gegenseitig akzeptieren, erst einmal sehen, wer ist wer; mit wem habe ich es da zu tun. Siehe, dem andern schmeckt es auch! Schau mal, er schätzt offenbar den gleichen Wein wie ich! Also nicht: sich abgrenzen, eine Partei einfach nur verbieten! Mit Islamisten den Kontakt nicht scheuen, sondern mit ihnen reden. Mit Homosexuellen keine Berührungsängste aufkommen lassen, Fundamentalisten nicht abkanzeln, allen erst einmal offen und mit Wohlwollen begegnen: Ist das „repressive Toleranz“, die alles beim Alten belässt und im Grunde die bestehenden Machtverhältnisse stärkt?
Sich mit Zöllnern und Sündern zusammensetzen heißt für Jesus zugleich: sich mit ihnen auseinandersetzen! Als Jesus von den Vorwürfen seiner Gegner hörte, sprach er: „Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.“ Jesus sagt es zu denen, die ihm eine falsche, unangebrachte Toleranz unterstellen. Aber es hören wohl auch diejeingen, die da mit ihm speisen und trinken. Vielleicht schmeckt es ihnen dann gar nicht mehr so sehr: Er hält uns für „krank“. Eine Zumutung, wenn uns jemand sagt: Du bist krank! Wenn mir der Arzt die Diagnose stellen sollte: Sie sind krank; wir müssen, Sie müssen etwas unternehmen.
Zu Jesu Toleranz gehört es nicht zu beschönigen. Kein Laissez faire. Jesus nennt krank, was an uns krank ist. Und er kümmert sich um Kranke. Mehrfach wird im Neuen Testament von Jesu Heilungen berichtet. Wir haben heute Mühe mit solchen Wundergeschichten, aber so viel verstehen wir: Jesus will heilen, und sicher nicht nur den Leib, sondern auch die Krankheiten der Seele. Er will uns heilen in unserer falschen Toleranz und unserer ungenügenden Intoleranz, und er will diejenigen heilen, die unsere Toleranz oder unsere Intoleranz brauchen. „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen“, die Lukas-Parallele unseres Textes fügt hinzu: „zur Buße zu rufen“. „Lernt, was das ist, Barmherzigkeit …“.
Der Begriff Barmherzigkeit ist dabei, aus unserem Wortschatz zu verschwinden. Er meint die Bewegung unseres Gemüts, unseres Inneren, wenn wir die Misere eines Menschen sehen und dann auch tätig werden. Er beschreibt unser Herz, wie es sich einem anderen in seiner Not zuwendet. In der Alltagssprache taucht es nicht mehr auf. In den Fernsehnachrichten habe ich es in den letzten Jahren ein einziges Mal gehört, als nämlich die Angehörige einer Geisel die Kidnapper irgendwo in Asien öffentlich um „Barmherzigkeit“ anrief. Im Alten Testament ist es Barmherzigkeit, was unseren Gott auszeichnet: „Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte!“ (Ps 103, 8). Lernt, was das ist: Barmherzigkeit und nicht Opfer, nicht formale Kirchlichkeit, nicht gelegentliche Spende, nicht ein Obolus für die Bettler vor der Kirchentür, sondern echtes soziales Engagement und mindestens die Einladung zum Kirchenkaffee. „Seid barmherzig, wie euer himmlischer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36). Wer barmherzig ist, der darf ein bisschen sein wie Gott. Wenn wir barmherzig sind, dürfen wir ein bisschen sein wie Gott. Dann leben wir etwas von dem, was Gott will und wie Gott ist. Dann folgen wir dem, der uns ruft zur Buße, zur Barmherzigkeit.
Den Ruf zu Buße und Barmherzigkeit hören
„Jesus sah einen Menschen am Zoll sitzen, und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.“ Barmherzigkeit beginnt mit dem Sehen. Jesus hat diesen Menschen gesehen und dann nicht sitzen lassen in seiner Misere, bei seinem Geld. Darin bestand Jesu „Barmherzigkeit“. Vielleicht hatte dieser Mensch sich schon vorher manchmal gedacht, ob das mit dem Verdienen und dem Geld und dem immer wieder Betrügen alles sein kann. Immer nur die Börsenkurse verfolgen und die Entwicklung des Dax beobachten. Oder immer nur ängstlich darauf achten, wie es in diesem Monat mit dem Geld ausreichen wird. Vielleicht hatte er eine Sehnsucht nach mehr, weg von dem ewigen Geld-Zählen und mit dem ständigen Debattieren mit den von ihm Abhängigen. Wir wissen es nicht. Jedenfalls sprang der Funke über. Obwohl dieser Mensch wusste, was er aufgab, und kaum eine Ahnung davon haben konnte, worauf er sich einließ. Jesus sieht ihn und ruft ihn, und – vielleicht ist er selbst erstaunt – er steht auf und folgt.
Jesus sieht ihn. Bei einem pietistischen Ausleger dieser Stelle, im Starcken.-Buch, habe ich eine Wendung gefunden, die mich anspricht: „Seele, Gott siehet dich!“ Seele, Du musst nicht sitzen bleiben, wo du gerade steckst. Du kannst dich entfernen von dem Alltag, wie er dich bisher geprägt hat. Du kannst dich aufschwingen, du kannst dir Flügel schenken lassen von deinem Gott. Jesus ruft dich. Ruft da jemand? Ruft etwas in mir nach Veränderung, nach einem erfüllteren Leben? Folge dem Ruf, lerne Barmherzigkeit!
Wie lernt man das?
Der griechische Text dieser Geschichte formuliert das auf eigenartige Weise. Wo im Deutschen steht: „Gehet hin“, sagt der Urtext: „Gehend“, „im Gehen“ lernt Barmherzigkeit! Im Gehen, Schritt für Schritt, im Ausprobieren, auf dem Weg hinter Jesus her. Die Nachfolge macht uns endlich wieder beweglich. Heraus aus den gewohnten Geleisen. Man kann sich dazu nicht entschließen; mitunter haben wir es ja versucht. Da ist ein Ruf, der erreicht uns von innen. Da ist ein Ruf, der erreicht uns von außen, von den Menschen, die auf unsere Toleranz angewiesen sind, und von denen, die unsere Intoleranz herausfordern. Hinhören! Sich hinein nehmen lassen in die Barmherzigkeit und barmherzig werden. Dem Ruf Jesu folgen und sich wegrufen lassen aus dem Grau des Alltags, von der Macht der Gewohnheit – und wieder einen Weg vor sich sehen, einen Weg gehen, den Weg Jesu. Es wird uns gut tun, Vergangenes hinter uns zu lassen, etwas, womit wir ohnehin nicht zufrieden waren, abzuschütteln, was uns eigentlich schon lange gestört hat. „Er sah einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus – und der folgte Ihm. Setzen Sie Ihren eigenen Namen ein: Jesus sah einen Menschen, der hieß: – – – – und der folgte Jesus. Es wird unserem Leben Schwung und Farbe geben, wenn wir Belastendes los lassen, Buße tun, und lernen, anderen und schließlich auch uns selbst gegenüber barmherzig zu werden.
Ich lade Sie ein, obwohl das am Ende einer Predigt unüblich ist, zu einem kurzen Gebet jetzt aufzustehen und dieses Ihr Aufstehen als einen Schritt zu begreifen hinein in die Barmherzigkeit, von der wir leben und die wir üben dürfen, die mehr ist als Toleranz oder noch so notwendige Intoleranz. Wir beten: „Unser Herr und Meister Jesus Christus, der Du willst, dass wir Buße tun und Dir folgen, hilf uns dazu – – – erbarm Dich unser. Amen!
Hans-Martin Barth