Theologie für Glaubende und Andersdenkende

Die merkwürdige Autorität Jesu

Die merkwürdige Autorität Jesu

Predigt über Johannes 12,12-19

in der Lutherischen Pfarrkirche St. Marien in Marburg

am 9. April 2017 / Palmsonntag 2017

 

Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem käme, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf, wie geschrieben steht (Sach 9,9): Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselfüllen. Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so mit ihm getan hatte. Das Volk aber, das bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, rühmte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.“ (Hoh 12,12-19)

 

Liebe Gemeinde,

siehe, alle Welt läuft ihm nach! Das kann man so heute nicht mehr sagen. Im Jahr 2015 haben in Deutschland 210 000 Protestanten und 180 000 Katholiken ihre Kirche verlassen. Für 2016 liegen die Zahlen noch nicht vor. 390 000 Menschen, das sind fünfmal mehr, als Marburg Einwohner hat, und in dieser Größenordnung Jahr für Jahr – siehe alle Welt läuft ihm davon. Und merkwürdig, sie laufen aus demselben Anlass davon wie die, die ihm nachgelaufen waren: wegen der Auferweckung des Lazarus. Damals ist man ihm nachgelaufen, weil man von der Totenauferweckung des Lazarus gehört hatte. Heute läuft man ihm davon, weil man sagt: Jemand, von dem man so etwas erzählt wie eine Totenauferweckung, ist nicht vertrauenswürdig. Jemand macht einen Toten wieder lebendig, das kann nicht wahr sein; Fake news..

Das Johannes-Evangelium aber beharrt auf seinem Bericht. Das ganze Johannes-Evangelium hindurch geht es um die Autorität Jesu, und wenn sie noch so merkwürdig sein sollte. Wie damals die Jünger, sind wir heute dabei, die Autorität Jesu verkennen.

 

Die Autorität Jesu verkennen

Die Leute sind beeindruckt von dem, was sie da gehört haben: Lazarus ist vom Tod auferweckt worden! Von manchen wird behauptet, sie hätten es sogar miterlebt. Wie soll man das verstehen? Nach damaligem Verständnis gab es im Prinzip zwei Möglichkeiten: Entweder Lazarus war nur scheintot. Das Gehör erlischt beim Sterbenden als Letztes. Vielleicht hat Lazarus doch noch etwas gehört. Jesus hat den Lazarus „aus dem Grab gerufen“, heißt es ja ausdrücklich. Die zweite Möglichkeit: Das damalige Weltbild ließ für eine Totenerweckung durchaus einen gewissen Spielraum. Von einzelnen Wundertätern erzählte man sich so etwas, von Apollonius von Tiana oder von einem gewissen Asklepiades. Also warum nicht auch Jesus. So ein Totenerwecker wäre schon recht. Er wäre auch von politischer Relevanz, er erweckt sein Volk zu alter Größe, Israel first! Den will man haben, der soll rein in die Regierung, den muss man hereinholen, die Palm-Fahnen liegen schon bereit. Hosianna ihm, Heil …!

Die, die Jesus davonlaufen und die, die ihm nachlaufen – beide verkennen sie Jesus. Sie bleiben an der Geschichte mit der Totenerweckung hängen. Was hätten wir eigentlich davon, wenn Lazarus tatsächlich leibhaftig sein Grab verlassen hätte, wenn da irgendwann einmal ein Toter (oder Scheintoter?) wieder lebendig geworden wäre? Wollte Lazarus das überhaupt selbst? Von Menschen, die aus dem Koma wieder zurückgeholt werden konnten, hört man, dass sie darüber nicht unbedingt begeistert waren. Nein, beide, die die Jesus nachlaufen und die, die weglaufen, bringen sich um die Einsicht: Jesus selbst ist (wie es am Ende der Lazarus-Geschichte heißt) „die Auferstehung und das Leben“. Darin besteht die Autorität Jesu. Aber nicht einmal die Jünger haben das gleich verstanden.

 

Die Autorität Jesu erfassen

Wie soll man Jesu Autorität erfassen? Er fand einen jungen Esel, wörtlich übersetzt: ein Eselchen, und setzte sich darauf. Luther notiert: Kein Sattel, nicht einmal einen eigenen Esel hat er! In den anderen Evangelien wird es etwas anders erzählt. Nach Johannes also: Jesus findet ein Eselchen. Viele Esel und Eselchen werden auf dem Weg nach Jerusalem unterwegs gewesen sein, hohes Verkehrsaufkommen vor dem Fest, Jesus greift sich ein billiges Taxi. So wird man nicht Präsident. In einer alten Liturgie heißt es: Ein sanfter Mensch auf einem sanften Tier. Ein friedlicher Mensch auf einem friedlichen Tier. Was soll man von ihm erwarten?

Auch die Jünger können irgendwie nicht folgen. Erst im Nachhinein verstehen sie. Sie haben diesen Satz aus dem Buch des Propheten Sacharja schon oftmals gehört, aber sie kommen nicht auf den Gedanken, ihn mit dem, was sie erleben, zusammenzukriegen. Offenbar ist das kein Schade, wenn man nicht gleich versteht. Die Autorität Jesu zu verstehen, braucht Zeit. Diese Erfahrung liegt uns nicht gänzlich fern, dass man etwas Wichtiges erst im Nachhinein erfasst.

Jesus wird als „König von Israel“ begrüßt. Ein König ohne Truppen. Die spätere Tradition wird ihn als Herrn der Welt bezeichnen, als Pantokrator, Allbeherrscher. Der Herr der Welt auf einem Eselchen? Man stelle sich Allah auf einem Eselchen vor – schon die Vorstellung würde einen in einem islamischen Land ins Gefängnis bringen. So aber ist unser Gott. Das macht den christlichen Glauben aus, im Unterschied zu allen Religionen der Welt.

Für Jesus und uns, die wir ihm folgen, gelten andere Maßstäbe. Etwas scheinbar Nebensächliches kann ganz wichtig sein, und etwas, das im Moment imponiert, ganz unwichtig. Das Christentum proklamiert eine Revision unserer natürlichen Wertungen und Einschätzungen, im Extremfall eine Umwertung unserer Werte. Das Bild von Jesus auf dem Eselchen soll uns das klar machen. Das Reich Gottes ist nicht da, wo es großartig zugeht. Leider ist es auch nicht einfach da, wo Gutes sich durchsetzt. Jesus verschafft ihm nicht den rasenden Erfolg, den wir ihm wünschen. Luther meinte, an diesem Jesus auf dem Eselchen sollen wir unterscheiden lernen: Gottes Reich ist nicht von dieser Welt. Es managet nicht die Welt von oben, top down, sondern es durchdringt die Welt von untern, auf Eselsfüßen. Und doch ist es der Anbruch einer neuen Welt. Es kommt auf Umwegen. Aber es schaut schon um die Ecke. Und es bringt Frieden.

Die Autorität Jesu begrüßen und sich gelten lassen

Wie kann man die Autorität Jesu begrüßen, sie sich gelten lassen? Man kann da mit Gewalt und Krampf nichts ausrichten. Die Leute in Jerusalem kamen aus der Stadt heraus, um Jesus hereinzuholen. Im Mittelalter gab es geschnitzte Palm-Esel auf Rädern, die man ziehen konnte, weil man Jesus buchstäblich und leibhaftig in die Welt hereinziehen wollte. Aber so geht das nicht. Man kann sich nur da anstellen, wo er vielleicht vorbei kommt, und horchen, wo sich etwas tut und wann er kommt.

Jesus sucht sich selbst das Eselchen, auf das er sich setzen wird. Für manche ist das Eselchen, auf dem er kommt, ein anderer Mensch, ein glaubender und liebender und hoffender Mensch, der ihm begegnet und der ihn ansteckt. Auch eine Glückserfahrung oder ein Schicksalsschlag kann das Eselchen sein, auf dem Jesus in ein Leben einreitet, eine Krankheit. Oder ein Kind. Oder ein Telefonat, eine mail. Oder auch ein Gottesdienst. Jetzt – jetzt reitet er ein. Unterbrechen wir die Predigt für ein paar Minuten, um zu bedenken, wie er kommt, und um ihn zu bitten, dass er kommt und uns anrührt.

<Stille>

In unseren oft mickrigen und schlecht besuchten Gottesdiensten reitest Du ein, in Marburg, in unsere Gesellschaft und wirbst für die Umwertung unserer Werte, für neue Maßstäbe, für ein alternatives Verhalten, ein neues Leben.“

Franz von Assisi hat bekanntlich unseren Körper als unseren Bruder Esel bezeichnet. Vielleicht dürfen wir selbst manchmal das Eselchen sein, auf dem Jesus Christus kommt und seine merkwürdige Autorität daran setzt, um zu werben für mehr Vertrauen und Liebe in unserer Welt. Das mag uns belasten. Es könnte uns ja ähnlich schlimm ergehen wie ihm selbst. Christen in anderen Teilen der Welt kriegen das zur Zeit stärker zu spüren als wir. Auf dem Sinai wurden vor kurzem Christen umgebracht. Ein Freund aus Ägypten mailte mir ein paar Tage später: Wir sollen „als Christen das Kreuz jeden Tag auf unsere Schulter nehmen.“ Am 9. April 1945, heute früh vor 72 Jahren, wurde Dietrich Bonhoeffer im KZ Flossenbürg erhängt. Die Autorität Jesu sich gelten zu lassen, dem Mann auf dem Eselchen zu folgen, kann lebensgefährlich sein. Laufen wir nicht weg, laufen wir aber auch nicht unseren eigenen Erwartungen und Bedürfnissen nach, sondern lassen wir uns von dem Geist der Sanftmut und des Friedens erfüllen und folgen wir demütig ihm nach, unserem Herrn und Meister Jesus Christus!

Ach komm, Herr Jesus!

Amen!

 

Hans-Martin Barth