Theologie für Glaubende und Andersdenkende

Weltlicher Humanismus und / oder christlicher Glaube?

Weltlicher Humanismus und / oder christlicher Glaube?

Sanfter Atheismus an einem Beispiel diskutiert

 

Im Rahmen eines Forschungsprojekts zum Phänomen der Areligiosität bin ich auf das schon Buch „Weltlicher Humanismus“1 von Joachim Kahl gestoßen. Mir war der Autor von ferne bekannt, aber wir hatten bislang keinen Kontakt zu einander. Kahl hatte mit seinem Austritt aus der Kirche unmittelbar nach seiner theologischen Promotion und mit seiner Broschüre „Das Elend des Christentums“ 2 in den 70er Jahren Furore gemacht. Das neuerdings von ihm vorgelegte Buch hat mich in seiner weithin sachlichen, ja mitunter gewinnenden Sprache durchaus angeregt, so dass ich eine kurze Rezension verfasste, die ich vor der Veröffentlichung dem rezensierten Autor zugänglich gemacht habe. Er wiederum fand sich weitgehend verstanden und mailte mir einige Zeit später seinen Vorschlag zu, ob wir nicht ein öffentliches Streitgespräch führen wollten. Die Marburger Buchhandlung Elwert fand sich bereit, dieses doch eher ungewöhnliche Unternehmen auszurichten. Ich selbst habe den Band „Authentisch glauben“3 publiziert, der als Sammelband von der Machart her ganz anders ist als Kahls „Weltlicher Humanismus“, aber doch einige Beziehungen dazu aufweist. „Weltlicher Humanismus“ oder „authentisch glauben“ – das ist die Frage. Ich greife im Folgenden die von Kahl in seinem Buch und dann beim Streitgespräch geäußerten Thesen auf. Seine Sicht scheint mir im Blick auf die gegenwärtige weltanschauliche Situation insbesondere in kirchendistanzierten Kreisen charakteristisch. Daher gilt ihr mein Augenmerk.

 

Zunächst geht der Kampf um den Begriff „Humanismus“. „Weltlicher Humanismus“ – ein merkwürdiger Titel. Wieso nicht einfach „Humanismus“? Mit Humanismus hat ja wohl auch das Christentum etwas zu tun, und ich halte es für unsachgemäß, wenn der Begriff „Humanismus“ via „Humanistische Union“, „Humanistischer Verband“ einseitig atheistisch besetzt wird. Große Humanisten waren schließlich auch Erasmus von Rotterdam oder Melanchthon, und auch Albert Schweitzer wird man als Humanisten bezeichnen dürfen, der wohl nicht als Atheist gelten kann. Ich habe ein „Humanistisches Gymnasium“ besucht; das war keineswegs atheistisch, und meine Lehrer dort, die Altphilologen zumal, waren durchaus Humanisten, tief geprägt von einer christlich rezipierten Antike. Ich habe mich auch immer dagegen gewandt, wenn mir scheinbar fromme Zeitgenossen sagen wollten, dies oder jenes sei „nur Humanismus“. Wo immer sich Menschen für Humanität einsetzen, müssen sie gewürdigt und unterstützt werden.

Doch ebenso klar ist, dass es einer näheren Bestimmung von Humanität und Humanismus bedarf. Die Geschichte kennt Beispiele eines durchaus inhumanen Humanismus. Was versteht Joachim Kahl unter „Humanismus“? Wenn ich es richtig sehe, meint er einen philosophisch, näherhin metaphysisch begründeten Humanismus, der nicht nur ohne Religion auskommt, sondern Religion auch abschütteln muss. Das führt ihn zum Versuch einer scharfen Abrechnung mit der Religion und insbesondere mit dem Christentum und lässt ihn schließlich eine Ethik entwerfen, die er „Gentleman-Ethik“ nennt – der Humanist als Gentleman. Es sind also vornehmlich drei Themen, die zur Verhandlung anstehen: Metaphysik, Religion bzw. Christentum, Ethik. Das Thema Religion / Christentum ist mir dabei am wichtigsten.

 

1 Metaphysik als Religions-Ersatz?

 

Aber jetzt erst zur Metaphysik. Christlicher Glaube begründet sich nach meiner Überzeugung nicht metaphysisch, nicht durch philosophisch festzulegende Koordinaten. Er lässt sich durch sie auch nicht widerlegen. Für das Metaphysik-Verständnis von Joachim Kahl sind zwei Stichworte wesentlich: Das „Absolute“ und „Natur“. Er zieht den Begriff „Naturalismus“ dem eines „Materialismus“ vor. Wenn schon, würde ich das teilen, obwohl „Materie“ und „Natur“ heute wohl nicht einander entgegengesetzt verstanden werden dürfen. Aber Kahl will wohl sagen: Es geht um die belebte Natur, um „das Eine und Ganze“ einer aus der Materie sich entwickelnden Natur. In ihr will er dem Menschen nicht eine Mittelpunkt-, aber doch eine Sonderstellung zuweisen (41). Er spricht sogar von „erhabene(r) Natur“ (43), womit sich ein religiöser Ton einschleicht. Er möchte auch den Begriff des „Absoluten“ retten, denn dem „Relativen“ stehe das „Absolute“ gegenüber. Das Absolute sei „ein gewaltiger namenloser Zusammenhang, das Strukturgefüge des Seins selbst“ (76). Umgibt Kahl damit diesen Zusammenhang nicht doch mit einer religiösen Aura? Paul Tillich hat bekanntlich Gott als das „Sein selbst“ bezeichnet (womit ich allerdings nur begrenzt einverstanden bin). Kahl spricht von „Gespür für die Dimension des Absoluten“, ohne das unser Leben fade werde (77). Es ist mir unverständlich, wie Kahl Metaphysik und Religion als kategorial von einander unterschieden darstellen will. Er beruft sich auf die Auskunft Schopenhauers, der Mensch sei ein „animal metaphysicum“. Soll das heißen: Der Mensch braucht ein Weltbild, und zu Kahls Weltbild kann aus verschiedenen Gründen Religion nicht gehören? Natürlich leben wir, ob wir wollen oder nicht, jeweils mit bestimmten Vorstellungen von der Welt und auch ihrer Entstehung, aber die Weltbilder wechseln. Sie entwickeln sich fort aufgrund naturwissenschaftlicher Einsichten, sie sind teilweise auch durch kulturelle Traditionen (mit-)bestimmt. Im asiatischen Raum sind sie anders gefärbt als in der westlichen Welt. Zunehmend prägt die moderne Physik unser Weltbild; Kahls Vorstellungen scheinen eher an einem veraltenden Weltbild orientiert. Wie dem auch sei: Ich kann nicht einsehen, wieso ich mein Selbstverständnis eher von einer derzeit plausiblen, aber eben zeitbedingten Metaphysik als von meinem Glauben bestimmen lassen sollte. Im Gegenteil, ich nehme, ausgehend vom christlichen Glauben, Metaphysik und verfügbare Weltbilder kritisch in den Blick. Und ich habe keine Schwierigkeit, den großen Zusammenhang der Evolution als ein gewaltiges Zeugnis der Schöpfermacht und der unendlichen Kreativität Gottes zu bewundern und zu feiern.

 

2 Streit um Gott

 

2.1 Säulen des Atheismus?

 

Damit sind wir bei dem, was Kahl über bzw. gegen die Religion zu sagen hat. Dass die Existenz Gottes sich weder definitiv beweisen noch definitiv widerlegen lässt, ist ihm bewusst. Aber für seine Sicht spreche „alles“ (105). Insbesondere beruft er sich auf zwei Säulen des Atheismus: „Es gibt keinen Gott, der die Welt erschaffen hat“. „Es gibt keinen Gott, der Tiere und Menschen aus ihrem Leiden erlöst“ (106). Das sind nun keine „Säulen“, sondern Behauptungen, die durch „Säulen“ erst noch gestützt werden müssten. Er behauptet: Als erstes gelte es zu fragen: „Was tat Gott vor der Erschaffung der Welt“, wenn seine Schöpfertätigkeit zu seinen Wesensmerkmalen zählt ?(108). So eine Frage erscheint mir reichlich unterkomplex, denn sie geht davon aus, dass man sich Gott als eine „Gestalt“ vorstellen muss, die etwas „tut“, und dass man sich die Ewigkeit als einen „Bereich“ denken muss, in dem es ein Vorher und ein Nachher gibt. Es ist die Verführung zum Theismus, die für die Entstehung solcher Fragen verantwortlich zeichnet. Da leuchtet die Wendung von Georg Büchner, auf dies er dann zu sprechen kommt, nämlich vom Leiden als dem „Fels des Atheismus“ schon mehr ein. Auch sie arbeitet mit der theistischen Vorgabe. In der Tat gehört das Leid, im persönlichen Leben und in den Naturkatastrophen, zu den großen Herausforderungen des religiösen Menschen, für Christen noch einmal verschärft durch die Frage, wieso wir Menschen sind, wie wir sind, wieso wir einander schädigen, Kriege führen, schließlich bis zur Selbstvernichtung aufrüsten und warum „Gott das nicht ändert“. Immerhin machen diese Fragen einem religiösen Menschen zu schaffen, während sie Atheisten offenbar nicht mehr beunruhigen. Christen haben hier ebenso wenig eine Antwort wie Atheisten, aber sie haben eine andere Weise damit umzugehen. Sie setzen dem Schrecklichen das Vertrauen entgegen, ihre Gemeinschaft und ihr Engagement.

 

2.2 Denk-Fallen des Theismus

 

Joachim Kahl dekretiert: Das Vertrauen beruht auf einer Illusion. Er zitiert Bonhoeffers ermutigende Worte „Von guten Mächten wunderbar geborgen / erwarten wir getrost, was kommen mag“, und er entzieht sich nicht gänzlich den Zuversicht ausstrahlenden Worten des 23. Psalms: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln (…) und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bis bei mir (…).“ (90f). Aber er habe „seit langem begriffen“, dass es sich hier um „autosuggestives Wunschdenken“ handelt (90f). Hinter einer Behauptung wie dieser steht eine Erfahrung, und das will ich gern respektieren. Aber sie hat meines Erachtens nichts mit „begreifen“ zu tun. Es ist die Entscheidung für eine andere Sicht, die lebensmäßig begründet sein wird, aber die sich letztlich rational nicht ausweisen lässt. Sie könnte aber auch mit einem Missverständnis zu tun haben, das sich möglicherweise aufklären lässt.

Gerade der eben zitierte Bonhoeffer wusste, und das ist ein wörtliches Zitat: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“ Gott, wenn er denn Gott ist, der alle unsere Vorstellungen transzendiert, ist mit den Kategorien von „es gibt“ / „es gibt nicht“ nicht zu fassen. Deswegen kritisiere ich auch den Gedanken Tillichs, Gott sei das Sein selbst: Gott steht jenseits von Sein und Nichtsein. Nicolaus Cusanus hat das so formuliert: Gott ist so, „dass er weder ist noch nicht ist, weder ist und nicht ist, weder ist oder nicht ist – all diese Behauptungen berühren ihn nicht.“ Wir müssen uns von der Vorstellung, da sei ein Gott, der irgendwie in Analogie zu einer menschlichen Person zu denken wäre, lösen. Vor allem die philosophische Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben hat zu dieser theistischen Vorstellung geführt, obwohl doch schon im Alten Testament steht, „aller Himmel Himmel können dich nicht fassen“ (1. Könige 8,27), und im Neuen, in Aufnahme eines Dichter-Zitats: „in ihm leben, weben und sind wir“ (Apg. 17,28). Die sogen. negative Theologie hat immer wieder darauf hingewiesen, dass man von Gott allenfalls sagen kann, was und wie er nicht ist: er ist nicht endlich, nicht erfassbar, nicht einzugrenzen. Trotzdem, wenn wir von Gott reden wollen, müssen wir das mit Vorstellungen verbinden.

 

2.3 Unerlässliche Indirektheit

 

Aber weil es um Gott geht und nicht um irgendwelche vordergründige Beschreibungen, können wir das nur in einer poetischen Sprache tun. Ich denke, es löst heute viel Missverständnis aus, dass die poetische Sprache, die für Gottes Handeln verwendet werden muss, als Alltagssprache verstanden wird. Von Gott kann man nicht direkt reden. Wir kennen schon auf der rein irdischen Ebene Zusammenhänge, die eine indirekte Sprache verlangen, die Sprache der Liebe etwa. Man kann natürlich auch ein Liebesgedicht alltagssprachlich behandeln, Anschläge und Leertasten zählen, die Syntax prüfen, Begriffe definieren, aber man wird dem Gedicht damit vermutlich nicht gerecht, und derjenige oder diejenige, für die oder für den es geschrieben ist, wird sich gegen diese Analyse verwahren. Warum gestattet man der Bibel nicht, Poesie zu sein? Glaube lebt von einer Wahrheit, die sich in poetischer Gestalt aussprechen kann, aber gerade so als gültig und tragend erweist. Unsere Alltagssprache ist nicht geeignet, die Wirklichkeit voll zu erfassen. Darum reden wir in Vergleichen, Metaphern und Symbolen. Alltagssprachlich sagen wir irrtümlicherweise, etwas sein „nur ein Symbol“. Das ist Unsinn: Durch ein religiöses Symbol bringen wir zum Ausdruck, was auf der alltagssprachlichen Ebene gerade nicht zum Ausdruck gebracht werden kann.

 

2.4 Chancen des „als ob“

 

Weil Gott in unserer Alltagswirklichkeit nicht aufweisbar ist, sind wir, wenn wir an ihn denken oder von ihm reden, tatsächlich auf Projektionen angewiesen. Feuerbach hat recht, aber er weiß nicht, warum! Wir müssen uns auch sonst oft mit Projektionen behelfen, die freilich immer wieder kritisch zu überprüfen sind. Aber die Projektion als solche kann nicht von vornherein als unredlich oder unsachgemäß abgetan werden. Die Projektion vollzieht sich nicht nur zwischen Projizierendem und Projektionsfläche, sondern sie kann sich begründet wissen und auf ihre Begründung gleichsam zurückstrahlen. Ich mache folgenden Denk-Vorschlag: Ich denke an („projiziere“) „Gott den Schöpfer“. Aber die Wirklichkeit Gottes des Schöpfers ist nicht –sozusagen durch meine Projektion verdeckt – gleichsam hinter der Projektionswand versteckt, so dass ich erst eine Projektion entwerfe, aufgrund derer ich dann mein Leben verstehen und gestalten kann. Sondern ich sehe die Wirklichkeit Gottes darin, dass ich überhaupt projizieren kann, dass mir dieses Projizieren gestattet ist und dass es mir ermöglicht, Vertrauen und Zuversicht zu entwickeln. Da „ist“ kein Vater im Himmel, und doch kann sich in diesem Bild mein Vertrauen ausdrücken. Darin, dass ich nun gegen alle Widerstände und Misserfolge und Gefährdungen tatsächlich vertraue, darin wirkt die lebendige Gegenwart des mich väterlich begleitenden Gottes. In diesem Sinn darf ich sogar theistische Vorgaben akzeptieren, wenn ich weiß, dass sie nur Hilfsmittel sind, um mich mit dem Geheimnis der Gegenwart Gottes in Verbindung zu bringen. Heinz Zahrnt hat vor Jahren ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Leben, als ob es Gott gäbe“. Das ist tatsächlich der christliche Weg! Wir können Gott nicht greifen, aber im „als ob“ erweist er uns seine Wirklichkeit und Nähe. Man kann ja auch einmal überlegen: Wie anders hätte es Gott denn anstellen sollen? Was müsste er – theistisch formuliert – denn tun (oder nicht-theistisch gedacht: Was müsste denn passieren), damit Atheisten seine Existenz denkerisch akzeptieren könnten? Ich möchte Herrn Kahl direkt fragen: Welche theoretischen Möglichkeiten haben Sie, eine Existenz Gottes zuzulassen? Die Antwort lautet vermutlich: Es gibt keine! Hier schließt sich der Kreis. Charles Taylor nennt dies einen „selbstgenügsamen“, „ausgrenzenden Humanismus“.4

 

2.5 Selbstschutz gegen Selbstbetrug

 

Nun sagt aber Kahl nicht nur, dass es sich beim Glauben um Projektion handelt, sondern um „Wunschdenken“, „illusionäre Selbstbeschwichtigung“, „frommen Selbstbetrug“ (91). Er kann das natürlich behaupten, aber der Glaubende wird sich das ja vielleicht auch selbst fragen. Er kann sich ja nicht von sich aus zum Glauben entschließen. Deswegen lässt er es nicht bei Spekulationen, ob oder ob nicht, sondern er sieht sich nach Menschen um, die ähnliche Erfahrungen mit dieser Projektion eines bergenden, tröstenden und ermutigenden Gottes machen oder gemacht haben. Er findet bewegende Zeugnisse von solchen Erfahrungen in der weltweiten Ökumene, in der Geschichte der Kirche und in der Heiligen Schrift. Er weiß sich in alledem angeredet – von Gott, dem Grund und Ziel seiner Existenz. Jesus aus Nazareth wird ihm zum Inbegriff eines Menschen, der aus dem Vertrauen zu Gott gelebt hat. Jesus konnte trotz aller Qualen und vielleicht auch Selbstzweifel im Sterben sagen: „In Deine Hände, Gott, befehle ich meinen Geist.“ Von solchem Vertrauen lässt sich der Glaubende anstecken, in dieses Vertrauen lässt er sich hineinziehen.

 

3 Christologische „Pathosformeln“?

 

3.1 Selbstüberschätzung Jesu?

 

Hier protestiert Joachim Kahl. Es sind vor allem zwei Sätze, die seinen Unmut erregen: Joh 14,6. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, und Mt 28,18: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“. Im ersten Fall liegt „Selbstverabsolutierung“ vor (19), der zweite, eine „christologische Pathosformel“, kommentiert Kahl so: „Der vermeintliche Herr und Richter der Welt, der alsbald zurückkehren wollte, schrumpft zusammen zu einer tragikomischen Figur aus dem Lande Liliput“ (83). Wenn man sich durch diese merkwürdige Ausdrucksweise nicht stören lässt, ist dazu erst einmal festzuhalten (was Joachim Kahl wohl bewusst ist): Beide Aussagen sind Glaubensbekenntnisse. Es sind Worte, die die ersten Glaubenden Jesus in den Mund gelegt haben, weil sie ihn so wahrgenommen haben: als „Weg, Wahrheit und Leben“ und als den, dem alle „Vollmacht“ gegeben ist, auf den alles hinauslaufen wird. Das ist noch immer christliche Überzeugung, ein Glaube, der die Welt verändert hat. Ein Atheist mag einhaken: „aber nicht zum Guten“, worüber man dann streiten könnte. Jedenfalls mit dem Land Liliput scheint mir das wenig zu tun zu haben.

Andererseits hätte der historische Jesus vielleicht gegen die Kahl’schen Formulierungen nicht protestiert. In der Welt der politisch Mächtigen, der effektiven Kapitalisten und der gebildeten Atheisten ist Jesus vielleicht tatsächlich mit seiner Dornenkrone wirklich eine tragikomische Figur, und vielleicht ist das auch eine Rolle, die den Christen mehr und mehr zukäme. Jesus verstand sich als gekommen zu den wirtschaftlichen und moralischen und gesellschaftlichen Liliputanern. Leider hat seine Kirche das oft vergessen.

 

3.2 Gericht als Hoffnungsperspektive

 

Etwas, was Kahl bei Jesus als „kantig“ und „kernig“ empfindet, ist die Rede vom Jüngsten Gericht (107), und er moniert, dass sie heute „gern schamhaft verleugnet“ wird. Er beobachtet damit etwas Richtiges. Aber es ist ihm sicher nicht verborgen, dass es im Neuen Testament auch Stellen gibt, die von Gottes Willen zur Errettung aller Menschen reden und dass es spätestens seit der Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert an theologische Positionen gab, die diese Seite des Neuen Testaments unterstrichen haben. Er sieht mit Recht, dass hinter der Vorstellung von der Erwartung einer Hölle die Sehnsucht steht, es möchte irgendwann und irgendwie dahin kommen, dass nicht die schrecklichsten Verbrecher ebenso freundlich behandelt würden wie deren Opfer. Deswegen gibt es entsprechende Vorstellungen in nahezu allen Religionen, man denke an das Totengericht des Osiris, an das Schicksal des Sisyphos, an die buddhistischen Hungergeister und besonders an den Parsismus und schließlich an den Islam; Jesus hat das ja nicht erfunden. Aber sein Leben und Sterben wurde von den an ihn Glaubenden als eine Hingabe für alle Menschen und damit als eine Gabe an alle Menschen verstanden. Die Pointe des Evangeliums wird dann wohl nicht die Ankündigung der Hölle gewesen sein. Darum ist es legitim, nicht mit der Hölle zu drohen. Trotzdem bleibt die Warnung, die auch dem Atheisten einleuchten könnte, dass man sein Leben vermasseln kann und dass jedes Menschenleben mancherlei Vermasseltes an sich hat. Davon soll es im Gericht befreit werden. Insofern ist die Vorstellung eines zurechtbringenden Gottes eine Hoffnungsperspektive.

 

3.3 „Entkernung“ des Christentums?

 

Die „besoldeten Diener des Herrn“ sind nach Kahl im Umdeuten und Modernisieren des Christentums „hoch erfahren und erfinderisch“(83). Sie sind geschickt im Frisieren der ursprünglichen Botschaft, und sie „entkernen“ sie dabei. Kahl „weiß“ nämlich, was das eigentliche Christentum ist. Indem er die gesamte neuere Theologie als Selbstverteidigungs- und zugleich Selbstsäkularisierungs-Unternehmen charakterisiert, braucht er sich um deren Ergebnisse im Einzelnen nicht zu kümmern. Kann er sich überhaupt die Frage erlauben, welche Erkenntnisse vielleicht nicht das Resultat einer neuen „Frisur“ sein dürften? Er rühmt das Bilderverbot, aber er ist voll auf sein eigenes Bild von Christentum fixiert. Er gestattet ihm nicht sich zu wandeln, wie doch alles Lebendige sich im Prozess des Lebens wandelt und verändert. Damit macht er es sich leicht. Aber auf diese Weise wird er mit dem lebendigen Glauben nicht fertig werden. Entgegen seiner Absicht wird er so eher dem Glauben helfen, lebendig zu bleiben.

Rudolf Bultmann ist einer seiner Kronzeugen dafür, dass das Christentum seine Substanz verloren hat. „Was bleibt?“, fragt er fast mit dem Pathos dessen, der Bleibendes retten will. Antwortet der Christ: Es bleibt eine tiefe Geborgenheit, Lebensmut angesichts von Scheitern und Leid, ein kreativer Umgang mit Schuld und Versagen, eine durch nichts zu zerstörende Hoffnung, so antwortet er: Ja, der weltliche Humanist müsse tatsächlich mit einer gewissen Melancholie leben, aber der Christ wisse ja nicht, worauf er hoffe. Denn eine Hoffnung, die nicht auf konkrete Wunsch-Erfüllung ausgerichtet ist, kann sich ein humanistischer Atheist offenbar nicht vorstellen.

 

 

4 Gentleman-Moral

 

4.1 Ethos light

 

Im Blick auf das Thema „Ethik“ gibt es wieder vielerlei Berührungspunkte zwischen „weltlichem Humanismus“ und christlichem Glauben. Kahl kann deswegen auch den Dekalog positiv aufnehmen, die I. Tafel, in der es um Gott geht, allerdings nur mit Einschränkungen. Doch das I. Gebot: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“ fordert auch den Atheisten dazu heraus zu fragen, worin sein oberstes Gebot besteht, und zu versuchen, nicht dagegen zu verstoßen, sondern die eigenen Prioritäten einzuhalten. Ist das „archaisch-repressiv“? (185) Gerade im Machtbereich von repressiven Diktaturen hat die Erinnerung an die ersten Dekalog-Gebote aufrechten Menschen geholfen, sich nicht den offiziell anzubetenden Göttern zu beugen und die eigene Überzeugung nicht zu verraten.

Die einzelnen ethischen Vorschläge Joachim Kahls münden in das von ihm propagierte „Gentleman-Ideal“ (194). Er meint damit, gegenüber dem von ihm kritisch gesehenen Selbstverwirklichungs-Individualismus Paroli bieten zu können. „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Ich bin einverstanden. Kahl weist dem Gentleman vier Leitmotive zu: „Selbstbehauptung, Selbstbegrenzung, Fairness, gesunder Menschenverstand“ (198). Er singt das „Lob der Freundschaft“ (212ff) und plädiert für Erziehung und sogar für eine „verpflichtende Elternschulung und Elternfortbildung“ aus (211). Ich denke, auch ein christlicher Humanist sollte manche dieser Vorschläge unterstützen.

Aber sie werden ihm nicht ausreichen. Er wird fragen, woher die einzelnen Kriterien kommen, wie sie sich begründen und verteidigen lassen. In vorgeblichem Interesse für den Menschen ist schon viel Unrecht geschehen. Im Blick auf die Situation der Welt scheint mir, auch nur mit gesundem Menschenverstand betrachtet, ein Gentleman-Ideal nicht ausreichend. Wir brauchen doch wohl mehr Engagement! Auch Christen bringen es nur unzureichend auf. Wenn von Jesus berichtet wird, es habe sich ihm beim Anblick von Not das Eingeweide umgedreht, dann geht das erheblich über das Gentleman-Ideal hinaus. Wir brauchen das Engagement des barmherzigen Samariters! Kahl äußert sich naserümpfend über die „viel gerühmte Bergpredigt“ (107). Es dürfte aber nicht schwer nachzuweisen sein, dass es der Menschheit gut bekäme, wenn sie sich an die Grunddaten der Bergpredigt hielte.

Sie tut es nicht, und auch die Christen tun es nur begrenzt und mit vielen Enttäuschungen über ihr eigenes Versagen. Das Gentleman-Ideal hat zu ihrer Entlastung und Ermutigung wenig zu sagen. Aber eine Welt ohne Vergebung ist gnadenlos.

 

4.2 Areligiöse Spiritualität

 

Kahl will dem von ihm vertretenen Humanismus etwas von seiner Trostlosigkeit nehmen, indem er Anleihen bei der Tradition christlicher Spiritualität macht. Meditation, Kontemplation, Gewissenserforschung kämen aus hellenistischen Überlieferungen und seien nur christlich „erfolgreich besetzt“ (19). Das müsse jetzt ein Ende haben. Natürlich habe der Mensch spirituelle Bedürfnisse, aber mit Religion habe das nichts zu tun. Daran ist richtig, dass es natürlich Spiritualität auch außerhalb des Christentums, nicht zuletzt in den nichtchristlichen Religionen, gab und gibt, wobei der Hellenismus wohl seinerseits eine gewisse Religiosität hervorgebracht hat. Trotzdem wird man festhalten dürfen, dass Bachs Hohe Messe oder der Isenheimer Altar nicht ohne Weiteres auf außerchristliche Motive zurückzuführen sein dürften. Andererseits: Christlicher Glaube ist in der Tat etwas anderes als eine psychologisch sich möglicherweise nahelegende Spiritualität.

 

5 Hoffnungsfroher und liebender Glaube statt trüber Alternativlosigkeit!

 

Damit kommt mir noch einmal ein entscheidender Unterschied zwischen weltlichem Humanismus und christlichem Glauben in den Blick. Der von Kahl empfohlene Humanismus kommt mir als eine unnötige Selbstbegrenzung des Denkens vor. Einen Unterschied zwischen Verstand und Vernunft scheint er nicht zu kennen. Er spricht zwar von „Vision“, aber sie ist für ihn gebrochen durch „Skepsis“. Gewiss, wir brauchen auch Skepsis und Kritik, um nicht irgendeinem Fundamentalismus zu verfallen. Kopf gut schütteln vor Gebrauch! (Erich Kästner). Und doch sehe ich im Christentum die Welt offener, weiter, als Kahl sie sehen will. Der von ihm vertretene Humanismus mag als intern plural erscheinen, aber im Ganzen wirkt er doch als enges Gehäuse. Er kennt keine Alternativen. Christlicher Glaube dagegen hat die prophetische Kraft zur Alternative. Joachim Kahl, der ja auch als humanistischer Bestatter tätig ist, hat mir freundlicherweise eine seiner Traueransprachen mit dem zugehörigen Ritual zugehen lassen. Wenn er im Rahmen dieses Rituals singen lässt: „Am Brunnen vor dem Tore / da steht ein Lindenbaum“, so kann ich zwar die Sehnsucht spüren, die sich darin ausdrückt, aber ich empfinde es doch als dürftig und unterbestimmt. Christlicher Glaube lädt dazu ein, Alternativen zu denken. Dies scheint mir eine genuin menschliche Möglichkeit zu sein. Humanismus, selbst wenn er sich nur in einem Gentleman-Ideal ausdrückt, ist hilfreich. Aber gerade weil es um den Menschen geht, darf sich Humanismus nicht mit einer sich selbst begrenzenden Weltlichkeit zufrieden geben.

 

Hans-Martin Barth

 

Erschienen in: Deutsches Pfarrerblatt 112 (2012), 563-566

 

1 Weltlicher Humanismus. Eine Philosophie für unsere Zeit, Berlin 42009.

2 Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott, Hamburg 1968, dann in vielen Auflagen nachgedruckt.

3 Authentisch glauben. Impulse zu einem neuen Selbstverständnis des Christentums, Gütersloh 2010.

4 Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009, 42 und passim..