Theologie für Glaubende und Andersdenkende

Protestantismus und Areligiosität – ein Forschungsdesiderat

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Die Religionsgeschichte ist in Bewegung. Während in Japan Neureligionen sich bilden und in Afrika synkretistische Prozesse sich vollziehen, greifen in Mitteleuropa (ansatzweise auch in den USA) Agnostizismus und religiöses Desinteresse um sich. Man spricht von einem „europäischen Sonderweg“. Der Historiker Hartmut Lehmann will offen lassen, ob Europa zur Religion zurückkehren wird oder ob es sich hier um ein „Pilotprojekt der Geschichte“ handelt. Ich selbst halte es nicht für ausgeschlossen, dass es in der weiteren Entwicklung der Religionsgeschichte zu einer Art „Gabelung“ kommt, derzufolge ein Teil der Menschheit sich weiterhin im Dschungel von Religionen fortbewegen, ein anderer aber die Steppe der Religionslosigkeit vorziehen wird. Auffällig ist dabei, dass es innerhalb Deutschlands gerade die ursprünglich vom Protestantismus geprägten Territorien sind, in denen die Entkirchlichung am weitesten fortgeschritten ist. In den größeren Städten bleibt der Anteil der religiösen Bevölkerung unter 10% (z.B. Leipzig 7%), auf dem flachen Land kommt er kaum über 20%. Differenzierte soziologische Untersuchungen haben die Situation zu analysieren versucht. Sie geben allerdings kaum über religionsinterne Beweggründe Auskunft. Warum scheint es mit der Religion bei den Katholiken besser zu klappen als im Protestantismus? Natürlich sind Unkirchlichkeit und religiöses Desinteresse, wie der Blick auf Tschechien oder auch auf die Mittelmeerländer zeigt, nicht nur ein protestantisches und deutsches Problem. Trotzdem muss sich der Protestantismus im Land der Reformation durch die Sachlage besonders herausgefordert sehen.

„Niedergangsanalysen“ bilden nach Friedrich Wilhelm Graf ohnehin ein „wichtiges Element protestantischer Selbstverständigung“. Der Konfessionskundler und Theologe Walter Schöpsdau äußerte in einem Vortrag 2005 die Befürchtung, der Protestantismus stehe „heute vor der Überlebensfrage“. Schon Helmut Thielicke hatte in seinem Buch Leiden an der Kirche als klare Alternative formuliert: „Vollendung der Reformation oder Rekatholisierung“. Seither hat sich die Situation dramatisch verschärft. Es gibt zwar wiederholt Mitgliedschaftsuntersuchungen der EKD; es fehlt aber ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, das mithilfe koordinierter soziologischer, psychologischer, historischer und theologischer Analysen zu untersuchen hätte, wieso Areligiosität sich gerade in den „Stammlanden der Reformation“ so stark etablieren konnte. Im folgenden sollen dazu insbesondere drei Aufgabenstellungen skizziert werden:

1) Welche historischen Gründe haben zum derzeitigen Status des deutschen Protestantismus geführt?

2) Welche Elemente der reformatorischen Theologie erweisen sich, isoliert von ihrer ursprünglichen Intention, in der gegenwärtigen Situation als problematisch?

3) Inwiefern könnte der Protestantismus gerade an heiklen Punkten seiner Geschichte und Gegenwart seine providentielle Mission erkennen und bejahen?

Erschienen in: KuD 62 (2016), 53-67.