Toleranz zwischen den Religionen
Beitrag zum Marburger Reformationsweg
in der Universitätskirche am 31.10.13
Reformation und Toleranz – da haben wir in Hessen relativ gute Voraussetzungen: Landgraf Philipp war einer der tolerantesten Fürsten der Reformationszeit. „Toleranz“ ist inzwischen zum Schlagwort geworden. Nicht tolerant zu sein, gilt als politisch inkorrekt. Toleranz scheint eher ein gesellschaftliches, politisches Thema als eine kirchliche, religiöse Angelegenheit zu sein. Als christliche Gemeinde haben wir im allgemeinen keine Probleme mit der Toleranz. Angesichts des Plans, eine Moschee zu errichten, hat es in Marburg keinen Aufschrei gegeben. Einzelne intolerante Stimmen, die sich bemerkbar machten, fanden kein Gehör. Seit 2006 gibt es einen Runden Tisch der Religionen. In ihm treffen sich neben Christen Juden, Muslime, Buddhisten und Mitglieder der Baha’i. Unser Oberbürgermeister unterstützt alles, wo auch immer es um Integration und ein gutes Miteinader geht, von der innerchristlichen Ökumene bis zum interreligiösen Dialog. Also sind wir in Sachen Toleranz doch eigentlich ganz gut?
Doch in wenigen Tagen gedenken wir des Synagogenbrands vor 75 Jahren. Und Hand aufs Herz: Was fühlen wir, wenn wir in unseren Bussen alten Menschen schwarzer Hautfarbe begegnen? Sind wir wirklich erfreut, wenn die kopftuchtragenden Muslimas in unseren Straßen an Zahl zunehmen?
Warum könnten Christen und Christinnen in besonderer Weise motiviert sein, über Toleranz nachzudenken und sie auch zu verwirklichen? In unserem Glauben geht es nicht ums Rechthaben, sondern darum, dass wir entdecken, was uns trägt und orientiert. Wir wissen die Welt und mit ihr die ganze Menschheit in Gottes Hand. Wir bekennen unseren Glauben an Gott, den Vater, der Menschen anderen Glaubens (oder gar keines Glaubens) geschaffen hat wie uns. Wir gehen davon aus, dass unser Herr und Meister Jesus Christus für alle Menschen gelebt und gelitten hat und gestorben ist, auch wenn sie es nicht wissen oder nicht wissen wollen. Wir erwarten, dass Gottes Geist nicht nur in den Kirchen, sondern auch außerhalb z. B. der Evangelischen Kirche von Kurhessen Waldeck wirkt und zupackt, wo Gott will.
Und wenn die andere Seite nicht tolerant ist? Wenn bei uns Moscheen gebaut, in der Türkei und in vielen arabischen Ländern Kirchen aber nicht gebaut werden dürfen? Wenn in Ägypten allein in diesem Jahr mehr als 60 Kirchen niedergebrannt worden sind? Wir verstehen Gott nicht in seinem verborgenen Handeln. Wir sind entsetzt über Fanatismus und Selbstmordattentate. Menschen, die Kirchen niederbrennen oder Selbstmordattentate verüben, kennen die Menschenfreundlichkeit Gottes nicht. Sie sind den offenen Armen Jesu nicht begegnet. Sie sind aber vielleicht Christen begegnet, die sie enttäuscht haben, sie in ihren politischen Machtbereich einbeziehen oder sie klein halten wollten. Deswegen sollten wir nicht nur über sie entsetzt sein, sondern sie zu verstehen versuchen und darum beten, dass sich möglichst wenige Menschen von ihnen verführen lassen. Das könnte uns mit den Gemäßigten in ihrer eigenen Religion verbünden.
In gewisser Weise ist die Universitätskirchengemeinde ganz besonders gefordert, Toleranz mit anderen Religionen zu üben: In ihrem Revier befinden sich in absehbarer Zeit, wenn die Moschee erbaut sein wird, drei Zentren nichtchristlicher Religionen: die Synagoge in der Liebigstraße, das buddhistische Shambala-Zentrum Auf dem Wehr und die neue Moschee Bei St. Jost. Was heißt das für die Universitätskirchengemeinde, für Marburg?
Die Mitglieder nichtchristlicher Religionen gewähren lassen, weil es sie halt auch gibt? So mag Toleranz beginnen. Was aber heißt Toleranz im christlichen Sinn?
Es heißt zunächst einmal: den anderen wahrnehmen. Ihn kennenlernen wollen, sich für ihn interessieren. Wie ergeht es ihm hier in Marburg? Wo findet er Anschluss? Ein ägyptischer Freund von mir, ein Christ, sagte mir: Ich fühle mich in New York wohler als in Marburg; denn da falle ich mit meiner Hautfarbe und meinem gekräuselten Haar nicht auf. Wie hält man das aus, immer aufzufallen, als Fremder, nicht Einheimischer? Zu echter Toleranz gehört, sich in den andern hineinzuversetzen. Ihn anzusprechen oder ihm mindestens mit einem freundlichen Lächeln zu begegnen.
Das Zweite könnte sein: den andern ernst nehmen. Er hat seine Tradition. Er hat seine Eltern und Großeltern, die ihm seine Religion nahegebracht haben. Er hat seine Möglichkeiten, mit Schicksalsschlägen zurecht zu kommen. Ich kann ihm da gerade nicht helfen, jedenfalls kaum auf einem direkten Weg. Ich war in Japan bei einem buddhistischen Priester zu Gast, der nach dem gemeinsamen Essen aufstand und sagte, er müsse jetzt eine Frau besuchen, die über den Tod ihres Mannes nicht hinwegkomme. Ich hätte dieser Frau nicht helfen können, nicht nur weil ich ihre Sprache nicht verstand. Ihr unvorbereitet von Jesus zu erzählen, hätte ihr nicht geholfen. So konnte ich nur hoffen und wünschen und beten, dass mein buddhistischer Priester die rechten Worte aus seiner eigenen Religion finden möge, damit sie innerlich wieder Boden unter den Füßen gewinnen kann. Mir ist das ein Beispiel dafür, dass es erst einmal gilt, den anderen in seinem Gewordensein ernst zu nehmen.
Den anderen wahrnehmen, ihn ernst nehmen und schließlich ihn mitnehmen. Auch das gehört zur Toleranz. Nicht ihn mitschleifen oder zu etwas überreden, was ihm fremd ist. Sondern ihn mitnehmen in die Kreise, in denen wir verkehren. Im besten Fall gut Freund werden. Im Organisationskreis unseres Runden Tischs der Religionen duzen sich die meisten. Einander du sagen, auch wenn man den andern nicht versteht. Auch wenn man manches von dem, was er sagt, für unzureichend oder falsch hält. Unser Auftrag ist es nicht, andere Menschen zu bekehren. Das muss – mit oder ohne uns – Gott selber tun. Aber einander mitnehmen, niemanden im Regen stehen lassen, das soll schon sein.
Den anderen wahrnehmen, ernst nehmen, mitnehmen: Das heißt schließlich auch: bis zu einem gewissen Grad für ihn Verantwortung übernehmen. Wir haben als Christen eine gewisse Mitverantwortung für diejenigen unter uns, die ihre eigene religiöse Tradition leben wollen. Sie brauchen entsprechende Räume. Unter denen, die die Synagoge mitfinanziert haben und die heute den Moscheebau unterstützen, sind nicht wenige Christen. Das ist gut. Religionen können sich gegenseitig fertig machen oder sich gegenseitig stützen. Als der Bußtag abgeschafft werden sollte, haben sich islamische Gruppen für seinen Erhalt eingesetzt.
Wenn wir den anderen wahrnehmen, ernst nehmen, mitnehmen, auch Verantwortung für ihn mit übernehmen, erwecken wir vielleicht auch sein Interesse. Dann fängt auch er an, uns als Christen wahrzunehmen, ernst zu nehmen, mit zu nehmen und eine Mitverantwortung für uns zu übernehmen. Dann erwecken wir sein Interesse, dann kommt es zu einem Interessiert-Sein an einander, bei dem auch wir, ohne missverstanden zu werden, sagen können, was uns prägt und trägt.
Die Toleranzformel des Neuen Testaments heißt „wahrhaftig sein in der Liebe“ (Eph 4,15). Aus ihr ergibt sich auch, worin wir nicht tolerant sein sollten: gegenüber unserer eigenen Lieblosigkeit, die sich gerade in Intoleranz zeigen will. Gegenüber unserer Feigheit, zu der uns bewussten Wahrheit zu stehen, und gegenüber Trends und Bewegungen, die die Liebe im Namen einer absolut verstandenen Wahrheit vernachlässigen oder gar verdammen.
Herr, unser Gott, der Du allen Menschen nahe bist, die Du geschaffen hast, die Du erlösen und mit Deinem guten Geist inspirieren willst: Lehre uns, bring uns bei, tolerant zu sein, wie Du es von uns haben willst, und intolerant gegenüber allem, was Du nicht von uns haben willst, Amen!
Hans-Martin Barth