Theologie für Glaubende und Andersdenkende

Dogmatik zwischen den Stühlen?

Dogmatik zwischen den Stühlen?

Dogmatisches Denken zwischen Ökumene und interreligiösem Dialog

 

Ulrich Kühn zum 80. Geburtstag

Nicht nur dogmatische Konzepte, sondern auch Konzepte von Dogmatik verändern sich. Dazu trägt seit der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts der ökumenische und seit Beginn unseres Jahrhunderts der interreligiöse Dialog bei. Um die Ökumene ist es inzwischen stiller geworden. Man hat von „ökumenischer Eiszeit“ gesprochen; Matthias Petzoldt zieht in der Festschrift für Ulrich Kühn 2007 den sanfteren Begriff „Müdigkeit im ökumenischen Gespräch“ vor.1 Sie ist nicht nur durch die Wirkungslosigkeit von Vereinbarungen wie der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ oder durch Rückschläge wie „Dominus Iesus“ begründet. Die Zeiten haben sich geändert. Ökumene steht weder bei den bischöflichen Ordinaten und den evangelischen Kirchenleitungen noch im öffentlichen Bewusstsein noch auch in der theologischen Fachwelt an erster Stelle. Inzwischen sind Fragen der Integration und der interreligiösen Zusammenarbeit an die Spitze der Tagesordnung getreten. Ursprünglich in der Ökumene engagierte Theologen haben ihr Forschungsrevier in Richtung auf den interreligiösen Dialog ausgeweitet oder sich ganz und gar der neuen Thematik zugewandt. Hans Küng mag als Beispiel dienen, oder auch Peter Lengsfeld, der als Ökumeniker bereits vergessen scheint. Diese Entwicklung ist einerseits verwunderlich; denn infolge von globalen Migrationsbewegungen sind in Europa so viele unterschiedlich Kirchen vor allem ostkirchlicher Prägung präsent sind wie nie zuvor. Zudem steht die Dogmatik auch hinsichtlich des Verhältnisses von römisch-katholischer und evangelischer Theologie noch immer vor einer Vielzahl unerledigter Fragen. Andererseits setzt die religiöse Durchmischung der europäischen Gesellschaften neue Akzente. So ist zu hoffen, dass das Buchprojekt von Wolfgang Beinert und Ulrich Kühn2 den erlahmenden ökumenischen Mühlen neu Wasser zuführen wird. Doch der interreligiöse Dialog fordert eigene dogmatische Aufmerksamkeit, wobei es in Deutschland natürlich vorrangig um den Islam, aber auch einen latenten Trend zu buddhistischer Spiritualität geht. Die theologischen Fakultäten entziehen sich weithin der neuen Aufgabenstellung. Die Kirchenleitungen sehen sich daher veranlasst, mithilfe von Kommissionen selbst Papiere zu basteln, die dann manche traditionelle Positionen fortschreiben und pragmatisch ausgerichtet sind. Inzwischen deutet sich eine neue Runde der Auseinandersetzung an, über interkonfessionelle und interreligiöse Dialoge hinaus: Auch die nicht organisierte und die langsam sich organisierende areligiöse Welt erfordert dogmatische Wahrnehmung. Der Päpstliche Rat für Kultur hat bereits 2004 ein Dokument zur religiösen Indifferenz veröffentlicht.3 Die Bischofssynode 2012 wird sich aufgrund einer zur Zeit weltweit laufenden Umfrage mit der Frage der Areligiosität befassen. Beim letzten Gebetstreffen in Assisi war neben den Vertretern von Religionen eine Atheistin mitzuwirken eingeladen. Jedenfalls die römisch-katholische Seite scheint erfasst zu haben, was die Stunde geschlagen hat. Für Gesprächsrunden zwischen Christentum bzw. den Religionen mit areligiösen Bewegungen wie – in Deutschland – dem Humanistischen Verband oder dem Bund für Geistesfreiheit existiert noch gar kein Begriff; vielleicht könnte man von einem „interoptionalen“ Dialog sprechen. So sieht sich heute dogmatisches Denken, das die gegenwärtige Situation ernst nimmt, in der Tat „zwischen den Stühlen“, – „betwixt and between“, wenn es erlaubt ist, diese Formel für Übergänge und rites de passage in unserem Zusammenhang zu verwenden. Doch zunächst geht es noch vorrangig um das Verhältnis von „ökumenisch“ und „interreligiös“: Kann der beginnende interreligiöse Dialog von den Erfahrungen ökumenischer Gesprächsprozesse lernen? Wo liegen etwaige Gemeinsamkeiten, was sind die theologischen Voraussetzungen, worin differieren die Ziele?

 

 

1 Ökumene im Schatten des interreligiösen und interoptionalen Dialogs

1.1 Ökumenisch verantwortete Dogmatik

 

Bei den Vorarbeiten zu meiner eigenen interreligiös orientierten Dogmatik4 habe ich mich natürlich gefragt, ob Voraussetzung für dieses Unternehmen nicht erst einmal eine innerchristlich verantwortete ökumenische Dogmatik wäre. Hätte ich auf Ulrich Kühn und Wolfgang Beinert warten oder mich mit Feiner / Vischer5 zufrieden geben sollen? Hermann Otto Pesch findet ja, bei Lichte betrachtet sei in katholischer und evangelischer Dogmatik „das Verfahren fast gleich – bis auf einige Formalien, die zwar für das Gespräch belastend und blockierend sein mögen, aber sogleich ihre Störungskraft verlieren, wenn man sich herzhaft über sie hinwegsetzt und weiter an der Sache arbeitet.“6 Damit scheint mir die Sachlage nicht als angemessen beschrieben. Noch komplizierter wird sie, wenn man die Möglichkeit erwägt, alle größeren Traditionen des Christentums in einer einzigen Dogmatik zu traktieren. In der Tat wäre ja, wenn schon nicht eine volle Dogmatik, bereits ein Kaleidoskop verschiedener Sichtweisen der wichtigsten Kirchen zu den Grundthemen des christlichen Glaubens wünschenswert. Die Sammlungen bisheriger ökumenischer Dokumente können das ja nicht leisten. Wir brauchen ökumenische Dogmatik, und sie dürfte nicht einlinig oder gar monolithisch daherkommen. Sie hätte vielmehr auf gemeinsamem Grund die plurale Entfaltung christlicher Lehre aufzuzeigen und als Indiz der Lebendigkeit ökumenisch-dogmatischen Denkens zu würdigen. Sie hätte damitjedenfalls ist das die protestantische Sicht – ein Modell dafür anzubieten, wie in unserer pluralistisch sich aufspaltenden Gesellschaft unterschiedliche, sogar einander widersprechende Positionen ein fruchtbares Zusammenspiel ergeben können.

 

1.2 Interreligiös orientierte Dogmatik

 

Aber wie auch immer man die einschlägigen Vorarbeiten zu einer die gesamte Christenheit in den Blick nehmenden Dogmatik einschätzen mag: Von außen wird das Christentum ohnehin als Einheit wahrgenommen, so wie Christen umgekehrt trotz deren Aufsplitterungen auch Islam oder Buddhismus mehr oder weniger als geschlossene Größe betrachten. Der kürzlich verstorbene Metropolit Damaskinos Papandreou pflegte zusagen: Wenn eine Konfession einen Fehler macht, sind auch alle anderen davon mitbetroffen. Das gilt heute auch im Blick auf die Religionen. Von Islamisten vollzogene Selbstmordattentate schaden auch dem Christentum, nicht nur, weil dabei ggf. Christen zu Schaden kommen, sondern weil damit Religion insgesamt diskreditiert wird. Die Religionen müssen ein positives Verhältnis zu einander gewinnen, wenn sie zum Frieden in der Welt beitragen wollen. Der interreligiöse Dialog ist unausweichlich. Dazu ist es nötig, die Grundanschauungen unterschiedlicher Religionen auf einander zu beziehen. Es gilt, Gemeinsames und Trennendes zu erfassen. Ein erster Schritt dürfte darin bestehen, dass eine Religion sich als einzelne zu den anderen in Beziehung setzt. Das kann die Aufgabe einer christlichen Dogmatik im Kontext der Weltreligionen sein. Aber jede Religion, die eine Lehre ausgebildet hat, müsste das für sich versuchen. Nicht ein Parlament, sondern ein Konzil der Religionen könnte ein utopische Ziel sein, zu dessen Zustandekommen interreligiös orientierte Dogmatiken einzelner Religionen einen Beitrag zu leisten in der Lage wären. Nicht nur ökumenische, sondern auch interreligiös orientierte Dogmatik tut not. Eine Dogmatik, die nicht ausgrenzt, sondern Anschlussstellen in anderen Religionen aufzuspüren versucht, dient dem Frieden.

 

1.3 Interoptionale Dogmatik

 

Inzwischen sind wir einen Schritt weiter: Atheistische Kritik wendet sich nicht mehr allein gegen eine einzelne Religion. Mitunter sind wenigstens die drei monotheistischen Religionen gemeinsam im Visier.7 Aber angesichts der oft verabscheuungswürdigen Rolle einzelner Religionen bei der Entstehung oder Verschärfung von Konflikten entsteht für nicht wenige Menschen die Frage, ob wir ohnehin „ohne Religion nicht besser dran“ wären.8 Gerade im Gegenüber zu einer Welt, die an Religion kein Interesse hat und für konfessionelle oder religiöse Konkurrenz-Kämpfe keinerlei Verständnis aufbringt, muss dogmatisches Denken sich ökumenisch verantworten und interreligiös orientieren. Nur mit dieser Bereitschaft kann es sich dann auch zu areligiösem und antireligiösem Denken in Beziehung setzen.

 

 

  1. Schwierige Ausgangslage

2.1 Konfessionelle Positionierung

 

Weder eine ökumenisch verantwortete noch eine interreligiös orientierte Dogmatik kann auf Positionalität verzichten, wenn es um mehr als eine konfessions- bzw. religionskundliche Zusammenstellung von Lehrmeinungen sein soll. Auch eine ökumenische Dogmatik kann nicht von allen christlichen Konfessionen und Denominationen zugleich ausgehen. Sie wird versuchen, sie in ihren Hauptanliegen in den Blick zu nehmen, aber auch das dürfte schwierig genug sein. So konzentriert sich ökumenisches dogmatisches Denken innerhalb des Christentums in der Regel auf die drei großen Konfessionsfamilien Orthodoxie, Katholizismus und Protestantismus. Bereits das charismatische Christentum wird vernachlässigt, ganz zu schweigen von indigenen unabhängigen Kirchen. Johannes Feiner und Lukas Vischer haben in ihrem „Neuen Glaubensbuch“ versucht, mithilfe eines gemischt-konfessionellen Mitarbeiter-Stabs „zu einer gemeinsamen Darstellung des Evangeliums vorzustoßen.“9 Sie sind sich der Schwierigkeiten bewusst: Die Erkenntnis, dass es übergeordnete und weniger wichtige Themen gibt, führt nicht in jedem Fall weiter. Im „Glaubensbuch“ von Feiner und Vischer lässt eine Fußnote darauf schließen, dass es in der Essenz die katholische Lehre wiedergibt.10 Edmund Schlink, der seiner Darstellung den programmatischen Titel „Ökumenische Dogmatik“11gegeben hat, präsentiert eine doch in den Grundzügen evangelische Perspektive. Sein Ansatz, eine „kopernikanischen Wende“ zu vollziehen und nicht mehr von der einzelnen Konfession, sondern von der gemeinsamen Mitte Christus auszugehen, ist ein sinnvolles Desiderat, das aber gleichwohl nicht notwendig eine konfessionell pluralistische Sicht zur Folge hat. So überzeugt wohl am meisten, wenn Otto Hermann Pesch seine Dogmatik als „katholisch“ bezeichnet, aber zugleich „aus ökumenischer Erfahrung“.12 Eine ökumenisch verantwortete Dogmatik kann nur perspektivisch und niemals pluralistisch sein. Der Begriff „pluralistische Theologie“ ist denn auch nicht im Zuge ökumenischer Bemühungen entstanden.13

 

    1. Religiöse Positionierung

 

Auch eine pluralistische Theologie wird einen spezifischen religiösen Ansatz haben müssen; Perry Schmidt-Leukel, in seinem Standardwerk „Gott ohne Grenzen“, spricht von einer „christlichen und pluralistischen Theologie“ der Religionen.14 Paul Knitter, einer der in Deutschland bekanntesten Vertreter pluralistischer Theologie, versteht sich als Katholik, hat sich aber entschlossen, sich zugleich einer buddhistischen Traditionslinie anzuvertrauen.15 Mögen ihm also Katholizismus und Buddhismus naheliegen, so zeigt sich damit doch eine gewisse Distanz zu Hindu-Traditionen und Islam. Wenn es ein echtes „double belonging“ geben sollte, so ist jedenfalls ein „universal belonging“ ausgeschlossen. Mit Recht bekennen sich Ninian Smart und Steven Konstantine in ihrer „Christian Systematic Theology in a world context“16 zu ihrer anglikanischen bzw. orthodoxen Herkunft; sie versuchen dabei, die Einseitigkeiten eines autoritären Katholizismus und eines zu Desintegration führenden radikalen Protestantismus zu vermeiden, nehmen damit allerdings Unschärfen in Kauf; denn die Differenzen zwischen Anglikanismus und Orthodoxie sind größer, als die beiden Autoren das zu erkennen geben. Schließlich legen sie nicht im eigentlichen Sinn eine „Dogmatik“ vor. Aber sie geben nicht nur allgemein ihren religiösen, sondern auch ihren konfessionellen Standort bekannt. Auch ich habe Ausgangspunkt und Grund-Orientierung der von mir erarbeiteten Dogmatik durch den Untertitel klar zu benennen versucht: „Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen“.17 Es ist unumgänglich, sowohl für eine ökumenisch verantwortete als auch für eine interreligiös orientierte Dogmatik einen klaren Ausgangspunkt anzugeben und in Kauf zu nehmen, dass er notwendig Begrenzung impliziert.

 

 

3 Verfahrens-Probleme

3.1 Von der Kontroverse zum differenzierten Konsens

 

Wie können ökumenisch verantwortete und interreligiös orientierte Dogmatiken verfahren? Die traditionelle Dogmatik hat sich für ökumenische Probleme nur, wo es unumgänglich erschien, interessiert, für interreligiöse Fragestellungen im Grunde überhaupt nicht. Sie hat, in evangelischer wie in katholischer Ausführung, zu alternativen Auffassungen anderer Konfessionen Stellung genommen, wenn es um die Abwehr häretischer Ansichten in der Abendmahls- oder Amtsfrage ging; nichtchristliche Religionen kamen auf evangelischer Seite beim Locus Offenbarung, auf katholischer Seite als Thema der Fundamentaltheologie vor, ohne dass man sich um konkrete einzelne Religionen oder religiöse Auffassungen groß kümmern musste. Kontroverstheologische Themen ließen sich mitunter in theologiegeschichtliche Darlegungen abschieben.

Ökumenisch verantwortete und interreligiös orientierte Dogmatiken nehmen Partner-Konfessionen bzw. –religionen bewusst in den Blick. Aber wie können sie dabei verfahren? Zunächst muss ausgewählt werden, mit wem man es zu tun haben will. Innerhalb des Christentums, vor allem in Mitteleuropa, wo die großen ökumenischen Probleme entstanden sind, ging es dabei primär um das Verhältnis von katholischer und evangelischer Wahrnehmung; erst spät wurde man auch auf orthodoxe Ansätze aufmerksam. Da das „Religionsgespräch“ seit der Reformationszeit, wenn auch häufig nicht erfolgreich, Tradition hatte, schien die Suche nach Gemeinsamem und die Verdrängung des Verschiedenen naheliegend. Das Glaubensbuch von Feiner und Vischer präsentiert in vier Teilen Gemeinsames und in einem fünften Teil „Offene Fragen zwischen den Kirchen“. Das erweckt, oberflächlich betrachtet, den Eindruck, in 80 % des Stoffs seien sich Protestantismus und Katholizismus einig, in nur 20 % dagegen (noch) nicht. Auch bei den offenen Fragen kann man dann die Geschichte bemühen und feststellen, dass beispielsweise die Lehrer von der Rechtfertigung „keinen kirchentrennenden Gegensatz mehr darstellt.“18 Dies hat in den Dokumenten „Lehrverurteilungen – kirchentrennend zu der (verräterisch militärischen) Formel „trifft heute nicht mehr“ geführt. Man hat auch auf die Unterschiedlichkeit und historische Bedingtheit der jeweils verwendeten dogmatischen Sprache hingewiesen, wobei wohl besonders die Verdienste von Otto Hermann Pesch zu würdigen sind. Noch in Lima sucht man im Blick auf Hauptprobleme der Kontroverse einen gemeinsamen Nenner, was durch die im Anschluss daran entwickelte Lima-Liturgie eine gewisse, aber sich nicht durchsetzende Plausibilität erhielt. Doch ein Durchbruch, leider nicht in der Sache, aber doch in der Methode wurde mit der Arbeit für die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre erzielt: Es gelang, einen differenzierten Konsens zu formulieren. Jede Seite artikuliert ihre spezifisch begründete Sicht; vorweg wird zum Ausdruck gebracht, was beide Seiten „gemeinsam“ glauben und bekennen. Ökumenische Dogmatik, die durch Autoren von mehr als einer Seite verantwortet wird, wird wohl auf diesem Weg voranschreiten wollen. Die päpstlich abgesegnete, aber im Grunde banale Feststellung „Uns verbindet mehr, als was uns trennt“ dient als Ausgangspunkt. Sie gilt nun hinsichtlich des Verhältnisses von Orthodoxie und Katholizismus noch stärker als für das zwischen Katholizismus und reformatorischen Kirchen. Trotzdem ist m. W. bislang keine katholisch-orthodoxe ökumenischen Dogmatik vorgelegt worden. Dies macht auf die Begrenztheit dogmatischen Denkens in ökumenischen und interreligiösen Zusammenhängen aufmerksam: Differenzierter Konsens bringt nicht in jedem Falle die Lösung.

 

    1. Konvergierende Differenz?

 

Für dogmatisches Denken im interreligiösen Kontext gibt es noch nicht allzu viele Beispiele. Es entwickelt sich zwar langsam eine „Theologie der Religionen“, die aber noch stark apologetischen Interessen dient. So fordern Christian Danz und Ulrich H. Körtner im Vorwort zu dem gleichnamigen von ihnen herausgegebenen Sammelband die „Wahrnehmung und theoretische Bearbeitung von Differenzerfahrungen, die nicht vorschnell durch die Behauptung von Konsens, Konvergenz oder gar Identität überspielt werden dürfen.“19 Ein ähnlicher Ton spricht aus einer Handreichung der EKD, in der es heißt, es gehe vornehmlich um die Klärung von „Leitdifferenzen“.20 Hier wird nicht einmal wie beim ökumenischen Dialog in den Blick genommen, dass sich im Lauf der Geschichte das Verhältnis von Religionen zu einander verändern kann. Auch ist der Versuch, die Alterität des Partners durch hermeneutische Bemühung im Blick auf seine Sprache und Mentalität zu würdigen, noch kaum begonnen. Hilfreich ist hier der Ansatz von Theo Sundermeier „Den Fremden verstehen.“21 Dies hat sich jedoch auf dogmatisches Denken noch kaum ausgewirkt. Gänzlich ausgeschlossen scheint die Möglichkeit, durch gemeinsame liturgische Praxis oder spirituelle Partizipation neue, auch für den christlichen Glauben relevante Erfahrungen zu machen. Müssen sich nicht gemeinsam begangene Trauer, geteilte Festfreude oder Gebetstreffen wie die in Assisi begonnenen auch auf dogmatisches Denken auswirken?22 Immerhin sucht Martin Hüttenhoff „Die Möglichkeit einer am Rechtfertigungsgedanken orientierten pluralistischen Theologie der Religionen“23 und Reinhold Bernhardt thematisiert „Protestantische Religionstheologie auf trinitätstheologischem Grund“.24 Vom Glauben an Gott als den Schöpfer, Erlöser und Vollender lassen sich Einsichten und Erfahrungen nichtchristlicher Religionen würdigen. Begriffen als im Zusammenhang stehend mit dem schöpferischen, erlösenden und vollendenden Wirken des dreieinen Gottes geben sie zu erkennen, dass sie dem christlichen Glauben keineswegs radikal widersprechen, sondern in mancher Hinsicht mit ihm konvergieren.25 Nicht „differenzierter Konsens“, sondern „konvergierende Differenz“ wäre damit Ausgangspunkt interreligiös orientierten dogmatischen Denkens.

 

 

4 Zielvorstellungen

4.1 „… alle eins“: Ökumene der Charismen

 

Was motiviert zu ökumenisch verantwortetem und zu interreligiös orientiertem dogmatischem Denken? Verfehlt wäre eine Zielvorstellung, die mit Vereinnahmung zu tun hätte. Joseph Ratzinger, jetzt Papst Benedikt XVI., hat gewiss eine große Leidenschaft für die Einheit der Kirche, aber er kann sie sich nur „katholisch“ vorstellen, und das nimmt seinen Initiativen jegliche Aussicht auf Erfolg.26 Im Verhältnis zum Islam haben Christen oft den Eindruck, nicht nur vereinnahmt, sondern der Sharia und dem Koran unterworfen werden zu sollen. Das Schreiben der 138 islamischen Gelehrten „Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“27 konnte diesen Eindruck gerade nicht verhindern; zudem wollen Muslime keinesfalls etwas von christlicher Mission hören. Ein erstes Ziel ökumenischen und interreligiös orientierten Denkens müsste darin bestehen, Missverständnisse aufzuklären und Vorurteile zu minimieren. Das würde nicht bedeuten, inklusiv erscheinende Überzeugungen, wo immer sie vom Glauben gefordert werden, aufzugeben. Der christliche Glaube, gerade wenn er sich trinitarisch entfaltet, kann ebenso wenig wie der islamische davon absehen, dass Gott für alle Menschen zuständig ist, also auch für den jeweiligen Gesprächspartner. Eine verfehlte Entwicklung bestünde auch darin, sich durch die Begegnung mit einer anderen Konfession bzw. Religion in einen Trend hineinziehen zu lassen, der das eigene Profil abschleift und damit Wichtiges, das von der eigenen Position her eingebracht werden könnte und müsste, verschenkt. So wird man zugeben müssen, dass die ökumenische Bewegung den Protestantismus einerseits verkirchlicht hat, ihm andererseits aber auch wichtige Elemente freien theologischen und kirchlichen Agierens reduziert hat. Gerade der Protestantismus wird sich dagegen zu wehren haben, aufgrund seiner interreligiösen Beziehungen als nur eine unter vielen anderen Religionsgemeinschaften verstanden zu werden. Er würde so seiner Möglichkeiten im interoptionalen Dialog, über den noch zu reden sein wird, beraubt sein.

Nun aber zu den positiven Zielvorstellungen. Das vor allem von katholischer Seite immer wieder benannte Ziel theoretischer und praktischer ökumenischer Engagements besteht darin, dass „alle eins“ seien, was in der Regel auch (kirchen-)lateinisch und nicht etwa nach dem griechischen Urtext des Neuen Testaments zitiert wird (Joh. 17,21). Es folgt auch kaum je die Fortsetzung des neutestamentlichen Wortlauts, nämlich: „Wie du, Vater in mir und ich in dir (…)“, was doch ein differenziertes Bild von Einheit zu erkennen gäbe. Die protestantische Vorstellung von Einheit orientiert sich denn auch eher an dem paulinischen Bild vom Leib mit den vielerlei Gliedern (Röm. 12, 1 Kor 12). Auf ein ökumenisches dogmatisches Denken hat dieser Unterschied natürlich Auswirkungen. Die protestantische Vorstellung impliziert eine Gemeinschaft der Gegenseitigkeit, wechselseitiger Akzeptanz und äußere wie spirituelle Hilfeleistung, nach dem Modell des allgemeinen, gegenseitigen und gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen, wie es Luther entwickelt hat. Daraus ergäbe sich eine Ökumene zwar der Profile, aber die Profile wären primär charakterisiert durch die Charismen, die den einzelnen Konfessionen zuteil geworden sind – ein Ökumene der Charismen. Das böte zugleich ein Beispiel dafür, wie nicht nur einzelne Menschen, sondern auch Gemeinschaften, die unterschiedliche Überzeugungen vertreten, auf eine konstruktive Weise zusammen leben und gemeinsam wirken können.

 

4.2 „Dein Reich komme“

 

Das geistliche Motto interreligiöser Orientierung und Bemühung könnte – wie Johannes 17 -ebenfalls ein Gebet sein, nämlich: „Dein Reich komme“. Es ist nicht auf die Gemeinschaft der an Jesus Glaubenden ausgerichtet wie der Satz aus Jesu hohepriesterlichem Gebet. Es schließt die Kirche ein, aber es geht darüber hinaus. Dass alle eins seien, bezieht sich auf die Gemeinde Jesu Christi, die Vaterunser-Bitte auf Gottes Wirken auch außerhalb der Kirche. Die Glaubenden sehen sich dem in Jesus sich offenbarenden Gott gegenüber, obwohl dieser sich auch in Leid und undurchschaubaren Zusammenhängen verbergen kann. Im Blick auf die außerchristliche Welt mag das Undurchschaubare, ja widergöttlich Erscheinende im Vordergrund stehen; Glaubende wissen gleichwohl sich und alle Menschen dem verborgenen Gott zugeordnet, dessen Macht und Barmherzigkeit auch außerhalb der Kirche aufscheinen kann.

Die Alterität von Mitglaubenden verstehen sie als Geschenk, die Alterität von Anders- oder Nichtglaubenden als Rätsel und Geheimnis. Im Gespräch mit Glaubensfremden werden sie sich ihres eigenen Glaubens bewusst. Mitunter werden sie an ihren eigenen Glaubenstraditionen inzwischen Verschüttetes und sogar unerwartet Neues entdecken.

Gottes Wirken bezieht sich nach christlicher Überzeugung nicht nur auf die Kirche.28 Auch die nichtchristlichen Religionen haben sich unter seinem Walten gebildet und nach seinem Willen den ihnen Anhängenden Orientierung und Halt gegeben. Deswegen müssen sie dogmatisch ernst genommen werden. Sie sind nicht mit dem Reich Gottes zu identifizieren, aber in ihrer Beziehung zu Gottes kommendem Reich zu würdigen. Dogmatisches Denken, das im christlichen Binnenraum verbleibt, reflektiert Hauptthemen dieses Binnenraums: Taufe, Eucharistie und Amt. Wenn es aber diesen Binnenraum überschreitet, drängen sich andere Themen in den Vordergrund: Gerechtigkeit, Friede, Bewahrung der Schöpfung. Das Modell der innerchristlichen Gegenseitigkeit lässt sich dabei nach außen übertragen. Bereits Rudolf Otto, als systematischer Theologe und Religionswissenschaftler, hatte vermutet, die religiös unterschiedlich geprägten Kulturräume könnten einander helfen: der Islam mit seiner Alkohol-Abstinenz dem an Alkohol-Problemen leidenden Westen, der Buddhismus mit seiner Anspruchslosigkeit einer der Lebensgier verfallenen Zivilisation.29 Christlicher Glaube hätte der nichtchristlichen Welt wohl etwas von der Würde eines jeden einzelnen Menschen, von Erfülltheit des Lebens durch freie und liebevolle Entfaltung und von einer alles Scheitern überwindenden Hoffnung zu sagen. Interreligiös orientierte Dogmatik bedenkt, inwiefern solcher Austausch auch in Glaubensdingen möglich sein und was er erbringen könnte.

 

5 Neue Aufgaben der Dogmatik

5.1 Widerstände

 

Warum muss dogmatisches Denken ökumenisch verantwortet und interreligiös orientiert sein? Viel spricht ja zunächst dagegen: Die Erarbeitung eines dogmatischen Werks, das die Themen des christlichen Bekenntnisses theologiegeschichtlich aufarbeitet und philosophisch reflektiert, zugleich aber sich mit ökumenischen Herausforderungen auseinandersetzt und interreligiöse Anschlüsse sucht, ist nicht realisierbar. Jedenfalls kann dies kein einzelner Autor leisten. Aber dogmatisches Denken kann durchaus ökumenisch und interreligiös ausgerichtet sein. Freilich ergeben sich auch dagegen Einwände. Ein christlicher Autor mag wohl in der Lage sein, sich in das Denken einer anderen Konfession hineinzuversetzen; zu einer nichtchristlichen Religion hat er jedenfalls zunächst keinen Zugang. Ihre Quellen vermag er nicht in deren jeweiliger Ursprache zu lesen, er kann in der Regel weder Arabisch noch Sanskrit. Der jeweilige Kult bleibt ihm verschlossen; Partizipation ist ihm nur in seltenen Fällen möglich; er ist innerlich anders vorgeprägt. Von einem evangelischen Missionar ist die Meinung überliefert, man könne eine andere Religion erst dann verstehen, wenn man versucht sei, zu ihr überzutreten. Diese Probleme müssen ernst genommen werden, aber sie machen die interreligiöse Orientierung nicht unmöglich. Der Grenzgang, vor allem, wenn er sich mit direkten Kontakten verbindet, ist realisierbar. Inzwischen präsentieren sich jedenfalls die Weltreligionen auch in den dem Europäer vertrauten Sprachen. Im übrigen wäre es kein Schade, wenn auch christliche Systematiker Sanskrit oder das Arabische beherrschten.30

Wird man aber, wenn man so breit ansetzt, nicht notwendig die binnentheologischen dogmatischen Probleme vernachlässigen? Vor allem aber: Wie steht es mit der Wahrheit? Führt ein derart offenes Vorgehen nicht zu Indifferentismus und Identitätsverlust?

Identität ist kein statischer Besitz, sondern sie bildet sich prozessual. Wahrheit liegt nicht fest, sondern sie erschließt sich im Wandel der Kontexte jeweils neu. Gewisse binnentheologische Probleme noch einmal durchzudeklinieren, dürfte heute weniger wichtig sein, als auf aktuelle Herausforderungen zu reagieren. Gerade das Verharren in nicht kommunikablen Positionen leistet dem Indifferentismus Vorschub und verhindert die Vertiefung spiritueller Identität.

 

    1. Christologisch begründete Motivation

 

Dass dogmatisches Denken nicht auf ökumenische Gesichtspunkte verzichten kann, ja dass „das theologische Denken als solches ökumenisch sein muss“31, ist inzwischen weithin anerkannt. Der von der gemeinsamen Bibel ausgelöste gemeinsame Traditionsstrom macht das zu einer Selbstverständlichkeit. Aber auch die gemeinsame Schuldgeschichte und die gemeinsame Aufgabe, das Evangelium zu bezeugen, fordern dazu heraus. Die in diesem Zusammenhang oft zitierte Wendung „auf dass die Welt glaube“ darf allerdings nicht im Sinn von Werbestrategie missverstanden werden. Gerade wenn die Kirchen zeigen würden, wie sie trotz unterschiedlicher Positionen einander nicht nur respektieren, sondern sich unterstützen und gegenseitig voranbringen, wäre dies ein viel eindrucksvolleres Glaubenszeugnis als ein nach römischem Vorbild geeintes Christentum. Im weltweiten Bekenntnis zu Jesus als dem Christus ist die Voraussetzung für ein ökumenisch plurales Christentum gegeben; sie ist durch ökumenisch verantwortetes dogmatisches Denken zu entfalten und ekklesiologisch fruchtbar zu machen.

 

5.2 Trinitarisch begründete Motivation

 

Interreligiös orientiertes dogmatisches Denken muss nicht christologisch einsetzen. Es weiß sich zunächst dadurch herausgefordert, dass alle Menschen, welcher Religion auch immer sie angehören, ihre Existenz dem Schöpfer verdanken, der in Jesus Christus sich ihnen zuwendet und durch den Heiligen Geist unter ihnen wirkt. Sowohl ökumenische als auch interreligiöse Ausrichtung dogmatischen Denkens ist trinitarisch begründet, wenn auch unterschiedlich akzentuiert. Die interreligiöse Orientierung dogmatischen Denkens erweist sich als unumgänglich angesichts der Schuldgeschichte der mit den Sünden des Kolonialismus verketteten christlichen Mission; sie stellt einen Akt der Buße dar. Hinzu kommen die Aufgaben, die sich aufgrund der zunehmenden Globalisierung durch Migrationsströme und neue Kommunikationswege ergeben. Ökumenische und interreligiöse Orientierung bewahren vor Klischees und fundamentalistischen Engführungen. Sie helfen, neue Denkmöglichkeiten zu erkunden und zu erschließen. Sie entsprechen der Freiheit eines Christenmenschen, die sich in der Dienstbarkeit gegenüber jedermann verwirklicht.

 

6 Dogmatisches Denken im interoptionalen Horizont

6.1 Die areligiöse Option

 

Ökumenische Verantwortung bezieht sich auf eine Christenheit, die – jedenfalls formal – mehr als zwei Milliarden Menschen umfasst. Die Religionen insgesamt machen etwa vier Fünftel der Weltbevölkerung aus. Etwa ein Fünftel der Menschheit – die Statistiken schwanken – hat an Religion im klassischen Sinn kein Interesse oder wendet sich explizit gegen sie. Unzählige Menschen vertreten theoretisch oder auch nur durch ihr Verhalten unterschiedliche Formen von Materialismus, Atheismus oder Agnostizismus. Zwar gibt es eine lange, im Grunde schon im 16. Jahrhundert beginnende Geschichte der Auseinandersetzung zwischen christlichem Glauben und Atheismus32, doch wird er in den traditionellen Dogmatiken allenfalls am Rande und kaum je explizit reflektiert.33 Auch ein Epilog zum Verhältnis von Religionen und „Areligiösen“, wie ich ihn meiner Dogmatik beigegeben habe, reicht dazu nicht aus. Christliche Dogmatik, die sich im heute im Kontext einer kommunikativ sich zunehmend verdichtenden Weltöffentlichkeit artikuliert, darf es nicht dabei belassen, sich nur zu innerchristlich konfessionellen oder außerchristlichen religiösen Positionen in Beziehung zu setzen. Sie wird vielmehr die Anfragen, die ihr aus einer areligiösen Welt entgegenkommen, zu hören und zu verstehen versuchen. Manches davon wird sie als konstruktive Kritik aufnehmen und nutzen können. Sie wird ihre Aussagen so formulieren wollen, dass sie für Nichtglaubende, wenn schon nicht existenziell, so doch kognitiv nachvollziehbar werden. Sie kann möglicherweise Missverständnisse aufklären und Vorurteile zurechtrücken. Sie wird im Blick auf manche Einsprüche rational nicht mehr als ein Patt erreichen können. Doch ihr Potential an utopisch ausgerichteter Metarationalität wird Menschen, die sich mit Atheismus, Agnostizismus und Materialismus zufrieden geben, infrage stellen und so in einem positiven Sinn „stören“ können. Das Evangelium hält Versprechen bereit, die allein durch ihr Vorhandensein gewohnte Denkgeleise unterbrechen und transzendieren, so den Zuspruch von Vergebung und die Verheißung von ewigem Leben. Die Kirche diskreditiert sich zwar oft durch ihr faktisches Erscheinungsbild. Aber sie bleibt das Modell einer Gemeinschaft, in der durch gemeinsame und in Gegenseitigkeit sich vollziehende Hingabe Gegensätze nicht nur überwunden, sondern sogar fruchtbar gemacht werden können. Selbst als utopisches Ideal stört sie eine auf Selbstdurchsetzung programmierte Welt. Inmitten einer Situation radikaler Bedrohung des einzelnen Menschen und der gesamten Menschheit irritiert erwartete „Erlösung“ schon als bloße als Vision. So erweisen sich die Religionen für areligiöse, antireligiöse und areligiöse Menschen als positive Störfaktoren. Auch für einander sind Religionen in vieler Hinsicht Störfaktoren; in spezifischer Weise gilt das für den „Stein des Anstoßes“ Jesus Christus. Die Dogmatik hat die Chance, diese Störzusammenhänge zu reflektieren. So trägt sie dazu bei, Voraussetzungen zu schaffen für ein interoptionales Gespräch, zu dem sie zugleich einlädt. Sie leistet damit einen Beitrag zu einem kreativen Umgang mit unterschiedlichen Traditionen und Optionen. Sie tut das, indem sie über das Eigene nachdenkt, mit Fremdem, so gut sie kann, mitdenkt und auf dieser Basis vordenkend mögliche konstruktive Entwicklungen in den Blick nimmt.

 

    1. Die Disziplin Dogmatik vor einer Arbeitsteilung

 

Die Dogmatik bisherigen Zuschnitts ist mit der beschriebenen Dreifach-Aufgabe überfordert. Sie kann sich nicht in gleicher Weise und Intensität der Klärung ökumenischer Probleme, interreligiöser Themen und areligiöser Fragestellungen widmen. Das ergäbe vermutlich wirklich eine Dogmatik zwischen allen Stühlen, „betwixt and betweeen“. Dogmatik muss sich auf mehrere Stühle verteilen, unterschiedliche Stühle besetzen. Mag sich dogmatisches Denken im 20.Jahrhundert an bestimmten „Schulen“ orientiert haben, heute sind andere Aufgaben gestellt. Es kann nicht mehr so sehr darum gegen, Denkansätze einzelner theologischer Lehrer zu diskutieren oder fortzuentwickeln. Dogmatik muss sich in den heute bedrängenden neuen Kontexten profilieren – im ökumenischen Gespräch, im interreligiösen Dialog, in der Auseinandersetzung mit säkularem Denken. Mit der guten alten Dogmatik à la Althaus oder Weber (oder auch Härle oder Leonhardt) ist es nicht mehr getan. Sie wird den Anforderungen der Gegenwart nicht gerecht. Ein anderer Stil von dogmatischem Denken muss eingeübt werden. Daraufhin sind auch Ausbildung und Examensordnungen zu verändern. Theologen und Theologinnen jeder Spielart – Pfarrer und Pfarrerinnen, besonders aber auch Religionslehrer und Religionslehrerinnen – müssen in ihrem Dienst sensibel sein für ökumenische, interreligiöse und religionskritische Fragestellungen. Mindestens in einer dieser drei Perspektiven sollten sie sich aus- und fortbilden, ansatzweise am besten in allen dreien. In der Dogmatik – im Unterricht wie im Publikationsbetrieb – wird eine Arbeitsteilung notwendig. Es braucht eine Dreifach-Ausfertigung christlicher Dogmatik: ökumenisch / interreligiös / areligiös orientiert. Ihre Kernfunktion, den christlichen Glauben denkend zu verantworten, kann sie nicht mehr erfüllen, ohne wenigstens eine der hier skizzierten Perspektiven entschlossen aufzugreifen.

 

Dogmatisches Denken und gewiss auch Dogmatik-Bücher sollen Interessierte jeder Provenienz „allseitig“ gesprächsfähig, lernfähig und damit auch handlungsfähig machen. Kein Mensch ist eine Insel – keine menschliche Gemeinschaft ist eine Insel. Mag die Christenheit – im Bild gesprochen – in ihrer konfessionellen Diversität eine Inselgruppe darstellen: die Inseln müssen sich im Austausch mit einander befinden. Das leistet die ökumenisch verantwortete Dogmatik. Der Archipel Christenheit seinerseits steht längst in Verbindung mit den ihm benachbarten Küsten. Dem trägt die interreligiös orientierte Dogmatik Rechnung. Aber auch der noch kaum in den Blick genommene Kontinent der Areligiosität muss einbezogen werden – durch den interoptionalen Austausch. Angesichts der religiösen Situation der Menschheit vermag nur ein arbeitsteiliges dogmatisches Denken neuen Stils dem Evangelium gerecht zu werden.

 

Die Disziplin Dogmatik steht vor der Aufgabe einer Arbeitsteilung. Ökumenische Dogmatik arbeitet nach dem Verfahren des differenzierten Konsenses. Sie ist primär christologisch motiviert. Sie hat zum Ziel, dass „alle eins“ seien im Sinn des paulinischen Bildes vom Leib und den vielen Gliedern. Dies führt zu einer Ökumene der Charismen und bietet zugleich ein Modell für die in sich zerstrittene säkulare Welt. Einander widersprechende Auffassungen zerstören nicht die Gemeinschaft, sondern bereichern sie.

Interreligiös orientierte Dogmatik arbeitet nach dem Verfahren der konvergierenden Differenz. Sie ist trinitarisch begründet. Ihre Perspektive heißt: „Dein Reich komme!“ Die Differenzen werden auf mögliche Konvergenzen hin untersucht und im Glauben an den verborgen waltenden Gott reflektiert und ertragen.

Vor neuen Aufgaben steht die Dogmatik angesichts der areligiösen Welt, die einen erheblichen Teil der Menschheit ausmacht. Sie hat mit ihr das Gespräch aufzunehmen. Im interoptionalen Dialog stellt sie sich den unterschiedlichen Formen von Areligiosität. Christologisch und trinitarisch begründet dient sie in ihrem ökumenischen, interreligiösen und interoptionalen Engagement der Weltgemeinschaft.

 

Dogmatics as a theological discipline is confronted with a necessary division into several branches.

Ecumenical dogmatics operates according to the method of “differentiated consensus” and is primarily motivated by christological concerns. Its goal is “that all shall be one”, as in Paul’s analogy of one body with many parts. This results in an ecumenism of spiritual gifts and at the same time offers a suitable model for the divided, secular world. Contradictory views enrich the community rather than tearing it apart.

Interreligious dogmatics operates according to the concept of “convergent differences” and is based on trinitarian principles. Its motto is: “Thy kingdom come!” Differences are studied and reflected upon in order to find possible convergences.

In the undertaking of such tasks dogmatics finds itself in an irreligious context comprising a considerable portion of modern society. It is within this context that dialogue must be conducted too. In such dialogue with other world views it takes a stand against various forms of secularism. With a christological and trinitarian basis it serves the worldwide community by its ecumenical, interreligious and interideological commitment.

Hans-Martin Barth

 

Erschienen in: Kerygma und Dogma 58 (2012), 198-212

 

1 Matthias Petzoldt (Hg. in Zusammenarbeit mit Heiko Franke, Michael Markert und Wolfgang Pfüller), Wider die Müdigkeit im ökumenischen Gespräch. Dem theologischen Lehrer und ökumenischen Gesprächspartner Ulrich Kühn zum 75. Geburtstag, Leipzig 2007.

2 Wolfgang Beinert, Ulrich Kühn, Ökumenische Dogmatik, Leipzig / Regensburg voraussichtlich 2012.

3 In: Benedikt Kranemann u.a. (Hg.), Mission – Konzepte und Praxis der katholischen Kirche in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 2009, 187ff.

4 Vgl. Hans-Martin Barth, Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen, Güterloh 3 2008.

5 Johannes Feiner, Lukas Vischer (Hg.), Neues Glaubensbuch. Der gemeinsame christliche Glaube, Freiburg i. Br.1973.

6 Otto Hermann Pesch, Katholische Dogmatik. Aus ökumenischer Erfahrung 1/1, Ostfildern 2008, 203.

7 Michel Onfray, Wir brauchen keinen Gott. Warum man jetzt Atheist sein muss, München Zürich 2006.

8 Stefan Bonner, Anne Weiss, Heilige Scheiße. Wären wir ohne Religion wirklich besser dran? Bastei Lübbe Taschenbücher Nr.60187, 2011.

9 Feiner / Vischer (wie Anm. 5), 13.

10 „Das für den katholischen Herausgeber zuständige Bischöfliche Ordinariat hat zur Drucklegung des Werks seine Zustimmung gegeben.“ Ebd. 19.

11 Edmund Schlink, Ökumenische Dogmatik. Grundzüge. Göttingen 11983.

12 Wie Anm. 6.

13 Eilert Herms, Lubomir Zak (Hg.), Sakrament und Wort im Grund und Gegenstand des Glaubens. Theologische Studien zur römisch-katholischen und evangelisch-lutherischen Lehre, Stuttgart / Rom 2011.

14 Perry Schmidt-Leukel, Gott ohne Grenzen. Eine christliche und pluralistische Theologie der Religionen, Gütersloh 2005.

15 Paul F. Knitter, Without Buddha I Could not be a Christian, Oxford: Oneworld Publications 2009.

16 Ninian Smart & Steven Konstantine, Christian Systematic Theology in a World Context, Minneapolis: Fortress Press 1991.

17 (wie Anm. 4).

18 Feiner / Vischer (wie Anm. 5), 644.

19 Christian Danz, Ulrich H. J. Körtner (Hg.), Theologie der Religionen. Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie, Neukirchen-Vluyn , VI.

20 Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen. Theologische Leitlinien. Ein Beitrag der Kammer für Theologie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD Texte 77). Hg. vom Kirchenamt der EKD, Hannover 2003, bes. 11-19.

21 Theo Sundermeier, Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen 1996.

22 Vgl. Hans-Martin Barth, Common Prayer. Auf dem Weg zu einer Theologie des interreligiösen Gebets, in: Adelheid Herrmann-Pfandt (Hg.), Moderne Religionsgeschichte im Gespräch. FS für Christoph Elsas, Berlin 2010, 126-143.

23 Vgl. Michael Hüttenhoff, Die Möglichkeit einer am Rechtfertigungsgedanken orientierten pluralistischen Theologie der Religionen, in: Danz / Körtner (wie Anm. 19), 107ff

24 Reinhold Bernhardt, Protestantische Religionstheologie auf trinitätstheologischem Grund, ebd. 121ff

25 Vgl. Hans-Martin Barth (wie Anm. 4) sowie Gisbert Greshake, Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg Basel Wien 2 1997, 499 – 522.

26 Vgl. Thorsten Maaßen, Das Ökumeneverständnis Joseph Ratzingers, Göttingen 2011, 366.

27 http://www.warda.info/EIN_WORT_DAS_UNS_UND_EUCH_GEMEINSAM_IST.pdf.

28 Das hat vor allem Johannes Christiaan Hoekendijk betont; vgl. ders., Kirche und Volk in der deutschen Missionswissenschaft (1948), München 1967.

29 Rudolf Otto, in: Die Hilfe 1921 Nr. 13, 207.

30 Carl Heinz Ratschow hat sich das Sanskrit angeeignet.

31 Feiner / Vischer (wie Anm. 5), 20.

32 Vgl. Hans-Martin Barth, Atheismus und Orthdoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert, Göttingen 1971.

33 Vgl. aber z.B. Hans Graß, Christliche Glaubenslehre I, Stuttgart usw. 1973, oder Horst Georg Pöhlmann, Abriss der Dogmatik. Ein Kompendium, Gütersloh 6 2002.